0.St. Goar in der Reformationszeit
St. Goar war im Mittelalter ein wichtiger Wallfahrtsort am oberen Mittelrhein. Ihren Namen verdankt die Siedlung dem heiligen Goar (495-575), der sich um das Jahr 550 hier niederließ und ein Hospiz für Kranke und Reisende gründete. Die Gemeinde besaß im Mittelalter gleich drei Heiligtümer, die an den großen Missionar erinnerten: die Goarskapelle, die von ihm selbst gegründete Marienkirche und die Stiftskirche, in der seine Gebeine ruhten. Die geistliche Oberaufsicht über diese Stätten führte seit dem 8. Jahrhundert die Abtei Prüm. Anders stand es mit der weltlichen Herrschaft in St. Goar. Vögte der Goarer Kirche waren zunächst die Grafen von Arnstein und seit 1185 die Grafen von Katzenelnbogen. Nach und nach gelang es den Grafen, den Ort unter ihre militärische und gerichtliche Hoheit zu bringen. Als die Grafen von Katzenelnbogen 1479 im Mannesstamm ausstarben, traten die Landgrafen von Hessen das Erbe an.
0.1.Unter der Herrschaft Philipps des Großmütigen (1504-1567)
Im Zeitalter der Reformation wendete sich die Landgrafschaft als eines der ersten deutschen Territorien dem lutherischen Bekenntnis zu. Philipp der Großmütige von Hessen (1504-1567) hatte im Jahr 1518 als Vierzehnjähriger die Regierungsgeschäfte übernommen und begeisterte sich für die Ideen der Reformatoren. Nachdem Kaiser Karl V. (1500-1558) im Jahr 1526 allen deutschen Landesfürsten den Umgang mit dem Luthertum bis auf weiteres freigestellt hatte, berief Philipp eine Synode in Homberg an der Efze ein. Hier ließ er die geistlichen und weltlichen Würdenträger seiner Grafschaft über das weitere Vorgehen beraten. Die Versammlung entschied sich für die Einführung der Reformation in Hessen und machte Vorschläge für eine neue Kirchenordnung. Philipp selbst verbündete sich noch im gleichen Jahr mit Johann von Sachsen (1468-1532) und anderen protestantischen Fürsten im Torgauer Bund.
Der Beschluss der Homberger Synode hatte schon bald Auswirkungen auf die hessischen Pfarreien. Bereits im Jahr 1527 führte Philipps Hofprediger Adam Krafft eine Kirchenvisitation in St. Goar durch. Das Wallfahrtswesen versuchte man sofort zu unterbinden. In den folgenden Jahren wurden die katholischen Pfarrer abgesetzt und durch evangelische Prediger ersetzt. Um den Lebensunterhalt des neuen Personals zu sichern, wurde das Goarer Stift aufgehoben und seine Kleinodien und Reliquien verkauft. Ein Teil des Geldes floss auch an umliegende Hospitäler und in den Aufbau der von Philipp gegründeten Universität in Marburg, die protestantische Geistliche ausbilden sollte.
0.2.Der erste evangelische Pfarrer: Gerhard Ungefug
Der erste evangelische Pfarrer in St. Goar, Magister Gerhard Ungefug, gen. Eugenius (+1542), hatte im Jahr 1532 eine Begegnung der besonderen Art zu meistern, als Kaiser Karl V., der damals mit seinem Tross rheinaufwärts schiffte, in St. Goar vor Anker ging und den Prediger an Bord holen ließ. Nach Auskunft des St. Goarer Oberamtmannes Heiderich von Calenberg sollen die beiden "lange über Glaubensdinge disputiert" haben. Als der Kaiser den Stadtprediger um die Erlaubnis bat, eine Messe in der Goarer Stiftskirche lesen zu lassen, habe Ungefug dies jedoch "nicht gestattet, ja sogar verweigert" - und das kaiserliche Gefolge nach dem katholisch gebliebenen Oberwesel verwiesen. Auf Magister Ungefug folgten 1543 Georg Nievergall und 1549 Melchior Schott als Pfarrer. Letzterer stammte aus St. Goar und war während seines Studiums in Marburg in den Genuss eines Stipendiums aus Goarer Stiftskapitalien gekommen. Er wurde während seiner langen Amtszeit Superintendent der Diözese Niederkatzenelnbogen und Dekan des Stiftes.
0.3.Die Stadt im Konflikt der Herrscherhäuser
Als Philipp der Großmütige 1567 starb, wurde die Landgrafschaft Hessen unter seinen vier Söhnen aufgeteilt. Es entstanden die Landgrafschaften Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt, Hessen-Marburg und Hessen-Rheinfels. St. Goar, unterhalb der Burg Rheinfels gelegen, kam zur letzteren. Da Landgraf Philipp II. von Hessen-Rheinfels im Jahr 1583 ohne Erben starb, wurde sein Gebiet zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt aufgeteilt. Die Niedergrafschaft Katzenelnbogen mit St. Goar unterstand von nun an den Landgrafen von Hessen-Kassel, die 1604 das reformierte Bekenntnis in ihren Pfarreien einführten. In St. Goar weigerten sich der Stadtprediger Gryphius und viele Gemeindemitglieder, den Konfessionswechsel mitzuvollziehen. Die Herrschaft reagierte darauf mit Amtsenthebungen.
Es dauerte nicht lange, bis die konfessionellen Streitigkeiten zwischen den hessischen Herrscherhäusern eskalierten. Nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) forderte das lutherisch gebliebene Hessen-Darmstadt die Herausgabe der Niedergrafschaft Katzenelnbogen und ließ St. Goar in den Jahren 1623 und 1626 erfolgreich durch spanische Truppen belagern. Stadt und Stiftskirche wurden dabei schwer verwüstetet, das lutherische Bekenntnis wieder eingeführt, das reformierte dafür verboten. Noch ein Jahr vor Kriegsende gelang es Hessen-Kassel allerdings, die Niedergrafschaft zurückzuerobern, das reformierte Bekenntnis erneut einzuführen und das lutherische zu verbieten. Der Westfälischen Friede erkannte diese letzte Wendung jedoch nicht an und sprach Katzenelnbogen dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels (1623-1693), einem Urenkel Philipps des Großmütigen, zu. Seine Herrschaft unterstand jedoch der Souveränität Hessen-Kassels. In St. Goar war man nun wieder lutherisch, die reformierten Einwohner wurden aber geduldet.
0.4.Simultaneum: Der Katholizismus in St. Goar
Bei diesem Stand der Dinge hätte es bleiben können, wenn es im Jahr 1651 nicht zu einem Religionsgespräch zwischen Lutheranern, Reformierten und Katholiken auf Burg Rheinfels gekommen wäre, in dessen Folge Landgraf Ernst zum katholischen Glauben konvertierte. Als Ernst im Jahr darauf eine Messe in der Goarer Stiftskirche lesen ließ, protestierten die anderen hessischen Herrscherhäuser bei Kaiser und Papst. Sie mussten die Existenz einer dritten Konfession in St. Goar allerdings hinnehmen. Vor Ort behalf man sich damit, die Stiftskirche in einen katholischen und einen evangelischen Bereich zu trennen. Von nun an wurde die Messe in der Krypta gelesen. Die Treppe zur protestantischen Oberkirche vermauerte man. Das Simultaneum in der Goarer Stiftskirche hielt jedoch nur wenige Jahre an. Schon 1660 erhielten die Katholiken eine eigene Kirche, in die auch die Gebeine des Heiligen Goar überführt wurden.
Bearbeiterin: Sarah Schrade
Verwendete Literatur:
Dieser Text basiert auf der vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. herausgegebenen Broschüre "Stift und Stiftskirche zu St. Goar. Ein kirchliches Zentrum am oberen Mittelrhein". Begleitpublikation zur Ausstellung. Mainz 2005.
Erstellt am: 15.03.2013