Die Geschichte der Juden in Bingen
Übersicht
- Die Anfänge der Binger Judengemeinde
- Das Spätmittelalter - territorialer Judenschutz
- Die Herrschaft der Mainzer Erzbischöfe
- Die Herrschaft des Mainzer Domkapitels
- Die Kriege des 17. Jahrhunderts
- Die französische Herrschaft und die jüdische Emanzipation
- Der Erste Weltkrieg (1914 - 1918)
- Der Nationalsozialismus und das Ende der jüdischen Gemeinde in Bingen (1933 - 1945)
- Nachkriegszeit und Erinnerungskultur
Die Anfänge der Binger Judengemeinde
Wann sich erstmals Juden in Bingen am Rhein niederließen, ist heute nicht mehr überliefert. Während einige Chronisten bereits das 10. oder 11. Jahrhundert annehmen, stammt die erste schriftliche Erwähnung einer jüdischen Gemeinde in Bingen aus dem 12. Jahrhundert. Rabbi Benjamin von Tudela erwähnt in seinem Reisebericht von 1160 auch Juden in Bingen. Zu diesem Zeitpunkt dürfte diese Gemeinde bereits einige Zeit bestanden haben, jedoch sind aus dieser Frühphase keinerlei Quellen oder Belege überliefert. Die jüdischen Bewohner:innen von Bingen dürften jedoch, wie andernorts auch, unter den allgemeinen Veränderungen und Konflikten des Mittelalters gelitten haben. Seit dem ersten Kreuzzug (1096 – 1099) wurde die Beziehung zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit immer problematischer. In den folgenden Jahren wurde die rechtliche Stellung der Jüdinnen und Juden immer weiter angegriffen, bis diese weitgehend entmündigt waren. Vermutlich litt die jüdische Gemeinde in Bingen wie in anderen Orten auch unter den Gräueln des zweiten Kreuzzuges (1147 – 1149).
Gesicherte Belege über die Binger Juden finden wir erst wieder Ende des 12. Jahrhunderts, als sich 1198 Rabbi Elieser ben Joel ha-Levi, einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des hohen Mittelalters, in Bingen niederließ. Er war vor der Zerstörung und Plünderung Bonns im Zuge des Deutschen Thronstreits nach dem Tod Kaiser Heinrichs VI. zwischen den Adelshäusern der Staufer und der Welfen geflohen. Jedoch erreichte der Krieg 1198/99 auch Bingen und die antijüdische Stimmung, die von den Kreuzzügen angefacht wurde, entlud sich an den dort lebenden Juden. Am Neujahrstag 1199 wurden die Binger Juden überfallen und ihre Häuser geplündert. Rabbi Elieser erwähnt in einem späteren Rechtsgutachten, dass er dabei seinen gesamten Besitz verloren habe, darunter auch seine wertvolle Büchersammlung, die eine der bedeutendsten jüdischen Bibliotheken des Mittelalters gewesen sein dürfte. Er verließ bald darauf Bingen und zog um 1200 nach Köln, bevor er weiter nach Würzburg ging. [Anm. 1]
Das Spätmittelalter - territorialer Judenschutz
In der darauffolgenden Zeit sind uns keine weiteren Namen jüdischer Einwohner:innen in Bingen oder Nachrichten über die jüdische Gemeinde überliefert. Die jüdische Gemeinde muss in den folgenden Jahren jedoch recht klein geblieben sein, da die Mainzer Erzbischöfe , die seit dem 10. Jahrhundert die Hoheitsrechte von Bingen besaßen, nur einer begrenzten Anzahl von jüdischen Familien den Status von Schutzjuden zuerkannten. Angehörige des jüdischen Glaubens wurden spätestens seit den Kreuzzügen als Gottesmörder verunglimpft und waren meist eher unbeliebt. Durch das Verbot für Christen Zinsen zu nehmen, waren es jedoch hauptsächlich Juden, die im Geldhandel und -verleih tätig waren. Dadurch erwiesen sie sich für die Landesherren, die unter ständiger Geldnot litten, als besonders nützlich. Gegen die Zahlung eines Schutzgeldzolls und weiterer Abgaben wurden einer geringen Anzahl von wohlhabenden jüdischen Familien die Ansiedlung in einer Ortschaft auf begrenzte Zeit gestattet und der Status von Schutzjuden verliehen, der ihnen den Schutz der Landesherren zusichern sollte. Dafür mussten die Juden sich vor einem jüdischen Gerichtshof verpflichten, den ihnen angewiesenen Ort nicht ohne die Erlaubnis ihrer Landesherren zu verlassen. In Bingen duldeten die Mainzer Erzbischöfe zunächst nur vier, später sechs und noch später sieben jüdische Familien, die für die wirtschaftlichen Interessen des Erzstifts ausreichten. [Anm. 2]
Bereits seit dem Jahr 1254 ist eine Judengasse („platea judeorum“) in Bingen erwähnt. Das Judenviertel lag im nördlichen Teil der Stadt zwischen Mönchsgasse und Judengasse (heute Amtsstraße und Rathausstraße). Im Norden wurde das Viertel von der Stadtmauer abgegrenzt, in der die sogenannte Judenpforte einen direkten Zugang zur Judengasse ermöglichte. Im Süden ging das Judenviertel bis zur Kirchgasse, der heutigen Basilikastraße. Während es in der Frühphase der jüdischen Besiedlung Bingens wohl noch keinen Zwang gegeben haben wird in einem gemeinsamen Viertel zu wohnen, änderte sich dies mit der Praxis des Schutzjudentums. Der Mainzer Erzbischof verfügte im Judenviertel über Besitzungen, in denen er seinen Schutzjuden meist gegen Mietzahlungen Wohnungen und Häuser zur Verfügung stellte. Um etwa 1360 verlegte der Mainzer Erzbischof seine Münzstätte von Eltville nach Bingen, die dort im oberen Bereich der Judengasse (Rathausstraße Ecke Scharngasse) untergebracht wurde. Bingen entwickelte sich damit zu einer der bedeutendsten und produktivsten Prägeanstalten am Rhein. [Anm. 3]
Wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung wurden jüdische Bewohner:innen in vielen Ortschaften hauptsächlich als ergiebige Geldquellen angesehen und oft zu besonderen Steuern und Abgaben herangezogen. Auch in Bingen waren jüdische Einwohner vermehrt im Geldhandel tätig und treten in den Quellen immer wieder als Geldgeber für den Mainzer Erzbischof in Erscheinung. So wird bereits im Jahr 1300 der Jude Gottschalk von Bingen erwähnt, der dem Mainzer Erzbischof Gerhard II. von Eppstein eine Summe von 350 Mark Kölner Denare lieh. Gottschalk ist der erste namentlich überlieferte jüdische Geldverleiher aus Bingen, taucht jedoch nur in dieser Quelle auf. [Anm. 4]
Ein anderer Binger Jude, der aufgrund seiner Geldgeschäfte mit dem Erzbischof bekannt ist, ist Abraham von Kreuznach. Dieser wurde um 1328 von Balduin von Trier, seit 1307 Erzbischof von Trier und ab 1328 Anwärter auf den Mainzer Bischofsstuhl, mit vorteilhaften steuerlichen Bedingungen nach Bingen gelockt. Während Balduin vom Mainzer Domkapitel zum neuen Erzbischof gewählt wurde, ernannte Papst Johannes XXII. Heinrich von Virneburg zum neuen Mainzer Erzbischof. Im darauffolgenden Konflikt nutzte Balduin Juden wie Abraham von Kreuznach, um sich die nötigen finanziellen Mittel zu beschaffen. Abraham war schon kurz darauf einer der wichtigsten Geldgeber des Erzbischofs. Obwohl sich Balduin nicht behaupten und sein Konkurrent Heinrich von Virneburg sich 1336 als neuer Erzbischof von Mainz durchsetzen konnte, blieb Abraham auch unter dem neuen Erzbischof ein wichtiger Bestandteil des erzbischöflichen Finanzapparats. 1337 war er unter anderem im Pachtbesitz des Ehrenfelser Zolls und erhielt 1342 auch die Zolleinnahmen aus Bingen und Geisenheim zum Pfand. 1342 betrug die Gesamtschuld des Mainzer Erzbistums bei Abraham 458 Pfund Heller. Ob er es schaffte, diese zurückzuzahlen, ist nicht überliefert. Die steuerlichen Privilegien, die Abraham nach Bingen gelockt haben dürften, sowie sein politischer Einfluss sorgten für eine Sonderstellung in der Binger Judengemeinde. Das Sonderprivileg befreite ihn von normalerweise geforderten Abgaben, die meist solidarisch auf die jüdische Gemeinde umgelegt wurden. Steuerliche Privilegien für reiche Juden hatten dann meist höhere Abgaben für die ärmeren Gemeindemitglieder zur Folge. Abrahams Ansehen in der Gemeinde dürfte damit wohl kaum das Beste gewesen sein. Jedoch scheint es zu keinem Zerwürfnis gekommen zu sein, wie es aus anderen Orten überliefert ist. [Anm. 5]
Die Herrschaft der Mainzer Erzbischöfe
In der Mitte des 14. Jahrhunderts brach die Pest in Europa aus. Der sogenannte Schwarze Tod breitete sich ab 1346 schnell im gesamten europäischen Raum aus. Schätzungsweise 25 Millionen Menschen starben an der Pandemie und ihren Folgen. Den Juden wurde dabei häufig die Schuld zugeschoben und Gerüchte verbreitet, dass sie die Brunnen vergifteten und damit die Pandemie auslösten. In der Folge kam es 1349 auch im Mittelrheingebiet zu zahlreichen Pogromen gegen jüdische Einwohner:innen. Das Nürnberger Memorbuch (eine besondere Form eines Totenregisters zum rituellen Gedenken an verstorbene Gemeindemitglieder und Opfer von Verfolgungen) nennt auch Bingen unter den jüdischen Gemeinden, die von Pogromen und gewaltsamen Übergriffen betroffen waren.
In Bingen lebte damals ein Rabbiner namens Jakob. Dieser war wie viele Juden bereits 1306 aus Frankreich vertrieben worden und siedelte sich in den rheinischen Gebieten an, wo es jedoch wiederholt zu Integrationsschwierigkeiten kam. 1343 ließ sich der französische Rabbiner Jakob mit seinem Sohn und seinem Schwiegersohn, nach Aufenthalten in Sobernheim und Eltville, wo ihm eine dauerhafte Ansiedlung untersagt wurde, schließlich in Bingen nieder. Dort blieb er, bis auch hier die antijüdische Stimmung durch die Pest überkochte und sich ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung ereignete, in dem viele jüdische Einwohner:innen getötet und vertrieben wurden. Es ist nicht überliefert, wann genau dieses Pogrom in Bingen stattfand. Die erste Nachricht über eine erneute jüdische Ansiedlung in Bingen stammt jedoch aus dem Jahr 1354. In den erzbischöflichen Akten wird auch Rabbiner Jakob und sein Sohn erwähnt, die damit zu den wenigen Binger Juden gehören, von denen überliefert ist, dass sie das Pogrom in der Mitte des 14. Jahrhunderts überlebten. In den darauffolgen Jahren wuchs die jüdische Bevölkerung in Bingen wieder an, sodass bereits 1362 sechs bis zehn jüdische Familien in Bingen lebten – nicht alle dürften einen gültigen Schutzbrief besessen haben. [Anm. 6]
Die Beziehung zwischen jüdischen und christlichen Einwohner:innen entspannte sich in der Folge jedoch nicht dauerhaft. Die jüdischen Bankiers wurden als „Wucherer“ verachtet und jüdische Personen häufig beschimpft, misshandelt und verprügelt. Viele, die sich Geld von jüdischen Geschäftsleuten geliehen hatten, glaubten, dass sie sich aufgrund der Verachtung, die den Juden entgegengebracht wurde, von ihren Schulden lossagen konnten. Dies löste 1365 ein energisches Einschreiten des Mainzer Erzbischofs Gerlach von Nassau aus, der den finanziellen Nutzen seiner Juden erhalten wollte. Er stellte die Binger Juden daher unter den Schutz seiner Beamten und Bürger:innen und ernannte seinen Vicedom im Rheingau namens Ulrich, der als Stellvertreter des Erzbischofs fungierte, zum Oberrichter über die Juden in Bingen. Der souveräne Gerichtsstand der jüdischen Bevölkerung war damit zwar nicht aufgehoben und erhielt durch den direkten Schutz des erzbischöflichen Vertreters auch eine gewisse Privilegierung – dennoch stellte dies eine unangenehme Kontrollinstanz für das jüdische Gericht dar. [Anm. 7]
Die jüdische Gemeinde in Bingen war auch weiterhin auf die Gunst der Mainzer Erzbischöfe angewiesen. Deren Einfluss konnte sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben. So ließ Pfalzgraf Ruprecht II. 1390 alle Juden aus der Kurpfalz ausweisen und beschlagnahmte ihren Besitz. Die Stadt Bingen als erzbischöflicher Besitz war von dieser Vertreibung jedoch ausgenommen. Die Abhängigkeit der jüdischen Bevölkerung wurde aber auch für wirtschaftliche Spekulationen ausgenutzt. So erließ Erzbischof Johann II. von Nassau 1405 der Binger Bevölkerung ein Fünftel der Schulden, die sie bei jüdischen Finanziers hatten. Dies bedeutete große Einbußen für die jüdische Gemeinde, die nach dem Stadtbrand im Jahr 1403 bereits große Teile ihres Besitzes verloren hatten. Sein Nachfolger Erzbischof Konrad III. von Dhaun ließ aus unbekannten Verdachtsmomenten die Juden in Lahnstein, Bingen und Eltville gefangen setzen und ihr Vermögen beschlagnahmen. Sie wurden zwar wenig später wieder freigelassen, aber das gesamte gemünzte Silber und Gold wurde einbehalten und die Geschädigten mussten auf Schadensersatzklagen verzichten. Es handelte sich dabei also um eine reine Finanzspekulation bzw. Enteignung, wie sie nur bei den abhängigen Juden möglich war. [Anm. 8]
Im 14. und 15. Jahrhundert wurde die Verwaltung verbessert. Für die jüdische Bevölkerung führte dies zu Zentralisierungstendenzen, die sich in der Etablierung von landesweiten, übergeordneten Einrichtungen der Judenschaft zeigten. Hierbei wird die besondere Bedeutung der jüdischen Gemeinde in Bingen deutlich, da spätestens im 15. Jahrhundert in Bingen – und nicht in Mainz – die Vorsteher der gesamten kurmainzischen Judenschaft zu finden sind. Der erste bekannte „Landeshauptmann“ der Mainzer Juden ist Kussel, der Sohn Schone Seligmanns, der seit 1388 über einen Schutzbrief von Bingen verfügte. Auch sein Sohn David gehörte 1429 noch zu den Kurmainzer Landesvorstehern. [Anm. 9]
Die Herrschaft des Mainzer Domkapitels
Im Jahr 1438 ging die Stadtherrschaft von Bingen auf das Mainzer Domkapitel über, das die Stadt in zwei Hälften 1424 und 1438 von den Mainzer Erzbischöfen erworben hatte. Damit ging auch der Schutz der Binger Juden auf das Domkapitel über, deren abhängige Lage sich dadurch allerdings nur wenig veränderte.
Im 15. Jahrhundert führte der Verfall der Getreidepreise zu wirtschaftlichen Problemen, was zur Aufweichung des Zinsverbots für Christen führte. Dadurch konnten diese nun auch im Geldhandel tätig werden, wodurch jüdische Geldhändler ihre besondere wirtschaftliche Nützlichkeit verloren und aus vielen Städten vertrieben wurden. Auch die Binger Juden hatten zahlreiche Einschränkungen, wie die Einziehung ihrer Habe und strenge Sondergesetze, hinzunehmen. Für eine kurze Zeit im Jahr 1457 wurde das Tragen von „Judenzeichen“ angeordnet zur leichteren Unterscheidung von Christen auf der Straße – für Männer einen gelben Stern auf der Brust und für Frauen zwei gelbe Streifen am Kopftuch. Das Dekret wurde noch im selben Jahr wieder aufgehoben, möglicherweise gegen die Zahlung von hohen Summen. [Anm. 10]
Das geistige Leben der Juden in der Rheingegend erfuhr um die Mitte des 15. Jahrhunderts einige Unruhe. Das mitteleuropäische Judentum durchlief in dieser Zeit liberalisierende Entwicklungen, die nicht von allen unterstützt wurden. In vielen größeren Gemeinden führte diese Entwicklung zu einer krisenhaften Situation, in der liberale und konservative Fraktionen um Einfluss und Macht stritten. Dabei wurden auch geistliche Amtsträger involviert, die dadurch meist nur weiter an Autorität verloren. In Bingen vertrat der Rabbiner Seligmann Bing eine strenge Religiosität, die sich in Kult- und Glaubensfragen in einem autoritären Traditionalismus ausdrückte. Rabbiner Seligmann Bing suchte nach Möglichkeiten, die Autoritätskrise der rheinischen Gemeinden zu beenden und plante umfangreiche Reformen der Gemeindeverhältnisse. 1454 lud er deshalb die Rabbiner und Gemeindevertreter der jüdischen Gemeinden des Rheinlands nach Bingen ein. Diese Versammlung wurde in Anlehnung an kirchliche Zusammenkünfte des Christentums „Binger Synode“ genannt. Diese Synode verlieh Seligmann Bing das Amt eines obersten Interpretators der örtlichen Gemeindesatzungen. Dadurch sollten ihm die strittigen Fragen aller rheinischen Gemeinden zur Entscheidung vorgelegt werden, wodurch er seine strengen religiösen Ansichten zu einem Maßstab für die anderen Gemeinden machen konnte. Dieser Reformversuch ging jedoch vielen jüdischen Gemeinden zu weit, die sich nicht seiner Autorität unterstellen und stattdessen an der bisherigen Autonomie der Gemeinden bei kultischen und geistlichen Fragen festhalten wollten. Diese Gemeinden beriefen daraufhin eine Art Gegensynode ein, auf der die Beschlüsse der Binger Synode ausdrücklich abgelehnt und verworfen wurden. Damit waren Seligmanns Reformversuche gescheitert. [Anm. 11]
Im Jahr 1470 ließ der Mainzer Erzbischof Adolf II. von Nassau alle Juden aus seinem Territorium ausweisen. In der Folge war die Stadt Mainz beinahe einhundert Jahre ohne jüdische Bewohner:innen. In Bingen ließ das Mainzer Domkapitel verkünden, dass bis zum 13. Juli 1470 alle Juden die Stadt zu verlassen hatten. Allerdings wurde auch nach dem Verstreichen der Frist kein Druck ausgeübt und die in der Stadt verbleibenden Juden geduldet. Möglicherweise wurde auch hierbei die Duldung in der Stadtbevölkerung durch hohe Abgaben erkauft. 1507 ließ Erzbischof Jakob von Liebenstein ebenfalls alle mittlerweile zurückgekehrten Juden aus seinem Herrschaftsgebiet ausweisen und erlaubte die Einwanderung nur unter harten Bedingungen. Dadurch drohte den Binger Juden erneut die Vertreibung, doch auch hier sind keine Hinweise überliefert, dass diese Ausweisung tatsächlich durchgeführt wurde.
Die jüdische Bevölkerung erfuhr in einigen Konflikten jedoch auch den ihnen versprochenen Schutz. So stellte sich der Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen auf die Seite der jüdischen Glaubensanhänger als Johannes Pfefferkorn 1509 vom Kaiser das Mandat verliehen wurde, alle jüdischen Schriften im Deutschen Reich zu untersuchen und alles Schrifttum zu vernichten, dass sich gegen die Bibel und das Christentum richtete. Der Erzbischof protestierte gegen dieses Mandat, da er wahrscheinlich keiner Privatperson Macht über seine Juden zugestehen wollte. Dennoch profitierte auch die Binger Judengemeinde davon, als der Erzbischof später vom Kaiser zum Kommissär ernannt wurde und 1510 durchsetzen konnte, dass Pfefferkorn die konfiszierten jüdischen Schriften aus Mainz, Frankfurt, Lorch und Bingen zurückgeben musste, nachdem sie untersucht wurden. Auch sein Nachfolger Erzbischof Albrecht von Brandenburg unterstützte die Juden in seinem Herrschaftsgebiet und wehrte sich gegen die Ausweisung der Juden aus dem Reich, wobei er auch viele Eingewanderte, allerdings unter harten Bedingungen, in seinem Herrschaftsgebiet aufnahm. [Anm. 12]
Die Kriege des 17. Jahrhunderts
Der Einfluss der Binger Gemeinde nahm bis ins 17. Jahrhundert immer weiter zu. So stammten 1603 bei einer Rabbinerkonferenz in Frankfurt am Main von 23 Teilnehmern allein drei aus Bingen. 1630 wurde der Binger Rabbiner sogar zum Landesrabbiner ernannt, dessen Autorität sich bis auf die Mainzer Gemeinde erstreckte.
Während des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648) war Rheinhessen wiederholt Schauplatz der Auseinandersetzungen. So wurde Bingen immer wieder erobert und gebrandschatzt und die allgemein schwierige Situation der Bevölkerung lastete ebenso auf den Juden der Stadt. Die Lage der Binger Juden wurde noch erschwert, als das Mainzer Domkapitel 1636 die Ausweisung aller Juden ohne Schutzbrief aus Bingen befahl. Dabei dürfte es sich um einen Großteil der Gemeindemitglieder gehandelt haben, auch da das in Bingen geforderte Schutzgeld seit jeher überdurchschnittlich hoch war. Die Ausweisung dürfte dem Willen der damaligen Stadtbevölkerung entsprochen haben, da die Stadt Bingen 1640 das Domkapitel darum bat, die Zahl der geduldeten jüdischen Familien von bisher 6 – 7 Familien auf 3 – 4 zu reduzieren.
Erst im Jahr 1679 ist wieder die Aufnahme von Schutzjuden überliefert. Dabei änderten sich auch die Bedingungen der Vereinbarung. So war der Schutzstatus nun lebenslang gültig, statt wie zuvor nur auf zwölf Jahre begrenzt. Allerdings wurde das Recht auf einen eigenständigen jüdischen Gerichtsstand abgeschafft, besondere Eidesformeln für die jüdischen Einwohner:innen formuliert und Handels-, Handwerks- und allgemeine Berufsbeschränkungen weiter durchgesetzt und verschärft. Für diesen Schutzstatus war dem Domkapitel jährlich 30 Gulden zu bezahlen. [Anm. 13]
Im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688 – 1697) wurde die Stadt Bingen 1689 im Zuge der sogenannten Pfalzzerstörung von französischen Truppen eingeäschert. Dabei fielen auch 17 jüdische Häuser in der Judengasse sowie die Synagoge den Bränden zum Opfer. In der Folge wurde ein neues Gotteshaus benötigt, dessen Kosten nur mit Unterstützung der Mainzer Gemeinde und reichen jüdischen Privatpersonen aus Worms gestemmt werden konnten. Die Binger Judengemeinde verarmte an den zusätzlichen Kriegskontributionen, die neben den hohen Abgaben und Steuern und den allgemeinen Ausgaben der Gemeinde für den Kultus gefordert wurden, während nur geringe regelmäßige Einnahmen zu verzeichnen waren. Nur durch hohe, freiwillige Spenden der reicheren Gemeindemitglieder konnte sich die jüdische Gemeinde in Bingen über Wasser halten. Trotz dieser Probleme wuchs die Anzahl der Juden in Bingen bis 1700 auf etwa 21 Familien an. [Anm. 14]
1734 kamen die Franzosen im Polnischen Thronfolgekrieg (1733 – 1738) erneut an den Rhein und eroberten und brandschatzten auch Bingen. Dies hatte erneut große materielle Einbußen für die Juden zur Folge, die nicht nur in Bingen weiter verarmten. Der jüdischen Tradition entsprechend gründeten sich in den folgenden Jahren verschiedene wohltätige Vereine, die sich mit Spenden und Taten für die weniger wohlhabenden Gemeindemitglieder einsetzten. In Bingen, wie in anderen jüdischen Gemeinden auch, war die Chewra Kaddischa dekawranim u-gmilut chassidim (Beerdigungsbruderschaft), auch als Kippe (von hebr. Kuppa – [Spenden-]Kasse) bezeichnet, einer der ersten und wichtigsten Vereine. In Bingen muss die Gründung des Vereins vor 1747 stattgefunden haben, da der in diesem Jahr verstorbene Rabbi Jehuda Löb Sobernheim in seiner Grabinschrift als Mitbegründer dieses Vereins genannt wird. Die Mitgliederanzahl war auf 18 Personen beschränkt; diese übernahmen die Betreuung von Kranken und Sterbenden sowie die Pflege der Toten und des Friedhofs. Die Mitgliedschaft galt als besonderes Ehrenamt, das nur den besten jüdischen Familien Bingens anvertraut wurde. Durch die Verarmung der Gemeinden gründeten sich daneben noch viele weitere wohltätige Vereine, die beispielsweise für die Ausstattung armer Bräute (hachnassat kala) oder für die Unterstützung auswärtiger Armer, bspw. Durchreisender und Bettler (hachnassat orchim) verantwortlich waren. Letztgenannter Verein betreute auch das Hekdesch („Judenhospital“), eine Herberge, die für durchreisende arme und kranke Juden und Gefangene vorgesehen war. Das Hospital wurde vermutlich ebenfalls weitgehend ehrenamtlich geführt und erst 1835 aufgelöst. An seiner Stelle wurde die jüdische Religionsschule errichte. [Anm. 15]
Die französische Herrschaft und die jüdische Emanzipation
Auch im 18. Jahrhundert wuchs die jüdische Gemeinde in Bingen weiter an. So wurden bei der Zählung der Binger Stadtbevölkerung im Jahr 1765 insgesamt 343 Juden (154 männliche und 189 weibliche Personen, davon 51 Schutzjuden, 1 Rabbiner, 1 Vorsänger und 1 Schulmeister) gezählt. Bei einer Gesamtbevölkerung von 2.812 Menschen, war der Judenanteil mit 12% der Stadtbevölkerung auffällig hoch. [Anm. 16]
1793 kamen die französischen Revolutionstruppen nach Bingen und brachten ihre Parole „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ mit. Für die Juden in Bingen bedeutete dies die Abschaffung des belastenden Schutzjudentums. Mit einem Mal waren Juden freie Bürger:innen eines freien Gemeinwesens, die die gleichen Rechte und Pflichten wie die übrigen Staatsbürger:innen besaßen. Seit 1808 waren Juden allerdings dazu verpflichtet, statt der bisherigen Benennung nach dem Vater, feste Vor- und Familiennamen anzunehmen und sich standesamtlich zu registrieren. Das freiheitliche französische Regime bot den Juden Teilhabe an allen öffentlichen Vorgängen, was eine freiere und günstigere Entwicklung der Gemeinden zur Folge hatte.
Am 17. März 1808 wurde das sogenannte „Judendekret“ eingeführt, das erneute Diskriminierungen und Einschränkungen gegen die jüdischen Bürger:innen legitimierte. So mussten gewerbetreibende Juden jährlich ein Handelspatent erwerben, dass ihnen vom Präfekten des jeweiligen Departements ausgestellt wurde, wenn ein „Moralitätspatent“ des Munizipalrats und des zuständigen jüdischen Konsistoriums vorlag, das bezeugte, dass sie keinen Wucher trieben. Während das Moralpatent in Frankreich 1818 wieder abgeschafft wurde, blieb es in Rheinhessen auch unter der neuen Herrschaft des Großherzogtums Hessen bestehen. Verschiedene Versuche, eine Aufhebung dieser diskriminierenden Regelung zu erreichen, scheiterten. Erst 1845 wurde diese Bestimmung des Dekrets aufgehoben. [Anm. 17]
Mit dem Ende der Napoleonischen Ära und dem Übergang zur Hessischen Herrschaft 1815 änderte sich für die Juden nur wenig, da ihre neuen Freiheiten bis auf eine neue Judensteuer nicht zurückgenommen wurden. Juden waren dadurch auch nicht mehr auf die Judengasse beschränkt und durften sich im gesamten Stadtgebiet ansiedeln, was vor allem von den reicheren Gemeindemitgliedern genutzt wurde. Die jüdische Bevölkerung hatte sich durch die Abschaffung der Handels- und Berufsbeschränkungen schnell zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor der Stadt entwickelt, was zu einem wirtschaftlichen Aufschwung vieler Gemeindemitglieder führte. So wurden die ersten Banken in Bingen von Juden gegründet und viele jüdische Geschäftsleute waren erfolgreich im Weinhandel tätig.
Zwischen 1819 und 1820 entwickelte sich eine erneute Feindseligkeit gegen die Juden, die zu den gewalttätigen Übergriffen der Hep-Hep-Unruhen (Hepp-Hepp-Krawalle) führten. Durch die Rheinschiffer („Schiffige“) wurden die Auswirkungen des aufkommenden Judenhasses auch in Bingen spürbar. Die Verbreitung von antijüdischen Spottversen verstärkte die Angst vor Übergriffen, sodass sich die Binger Juden an den Vorabenden einiger Festtage nicht in die Synagoge trauten. Die Hessische Regierung nahm jedoch gegen die judenfeindliche Bewegung energisch Stellung und garantierte den jüdischen Bürger:innen staatlichen Schutz. [Anm. 18]
Im 19. Jahrhundert erfreute sich Bingen einer blühenden jüdischen Gemeinde, die viele einflussreiche Rabbiner hervorgebracht hatte. Die Gemeinde hatte 1824 bereits 398 Mitglieder und sollte bis 1900 noch auf 713 Mitglieder anwachsen. Das deutsche Judentum dieser Zeit passte sich vermehrt der bürgerlichen Gesellschaft an. In der Binger Judengemeinde führte dies bei einem großen Teil der Gemeindemitglieder zum Wunsch nach liberalen Reformen. 1831 wurde der Binger Stadtrat Sigismund Friedbörig zum Vorsteher der jüdischen Gemeinde gewählt und begann sogleich liberale Reformen durchzusetzen. Die Gemeindeverwaltung wurde neugeordnet und Schulreformen durchgeführt. In der Synagoge wurden deutsche Predigten und Gebete, darunter eines für die großherzogliche Familie, sowie eine Orgel und ein Chor zu den Gottesdiensten eingeführt. Viele dieser Reformen missfielen dem Rabbiner Nathan Joseph Ellinger und seinen konservativen Anhängern, die darin eine Nachahmung der christlichen Bräuche und einen Bruch mit den Traditionen sahen. Aus Protest wurden konservative Gottesdienste in Privathäusern abgehalten. Das teilweise rücksichtslose Vorgehen Friedbörigs gegen den Rabbiner und ältere Gemeindemitglieder, die sich nur schwer in die neue Ordnung einfinden konnten, kostete ihm einige Sympathien in der Gemeinde. Dennoch wurden die Reformen des Kultus durch Friedbörig letztlich gegen den Willen des Rabbiners und einer Minorität der Gemeindemitglieder durchgesetzt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte der Konflikt zwischen dem Gemeindevorstand und der Mehrheit auf der einen und einer orthodoxen Minderheit auf der anderen Seite zu einer Spaltung der Gemeinde. Ab 1872 gab es in Bingen zwei jüdische Gemeinden: Die größere reformierte und liberal geprägte Israelitische Religionsgemeinschaft und die kleinere orthodoxe Israelitische Religionsgesellschaft. Diese kaufte in der Mönchsgasse (heute Amtsstraße) das Bethaus der ehemaligen Judenschule und richtete dort eine eigene Synagoge ein. Auch auf dem Friedhof wurde ein orthodoxer Teil eingerichtet, der mit einer Mauer vom restlichen Gelände getrennt war und über einen separaten Eingang zu betreten war. Die orthodoxe Gemeinde verfügte jedoch über keinen eigenen Rabbiner. [Anm. 19]
Die Deutsche Revolution 1848 fand auch unter den Binger Juden viele Unterstützer, die sich für Freiheit und rechtliche Gleichheit einsetzten. Im Frühjahr 1848 fand in der Binger Synagoge ein Verbrüderungsfest statt, an dem die Spitzen der Behörden und viele Binger teilnahmen. Jedoch schürte die Revolution auch antijüdische Ressentiments, die in Bingen in den Aprilwochen des Jahres 1848 zu Ausschreitungen gegen jüdische Bürger:innen führten. „Die besonnene Ruhe, mit der ein angesehener jüdischer Bürger der Rotte entgegentrat, entwaffnete sie völlig und nahm ihr den Mut zu rauben und zu plündern"[Anm. 20] – So Rabbiner Grünfeld in seiner Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Bingen über die Vorgänge im April 1848. Diese Judenverfolgung scheint unter anderem wirtschaftliche Motivationen gehabt zu haben, da viele Schuldner in den Revolutionswirren eine Möglichkeit sahen ihre jüdischen Gläubiger loszuwerden. In der Folge verließen vor allem wohlhabendere Juden den Ort, was der Stadt Bingen große steuerliche Verluste brachte. Das Scheitern der Revolution und die Reaktion der Fürsten enttäuschte auch die Binger Juden. Erst das „Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“, das 1869 bereits im Norddeutschen Bund eingeführt wurde und die Grundlage der Reichsverfassung 1871 bildete, erwirkte die vollständige rechtliche Gleichstellung der Juden. [Anm. 21]
Die jüdischen Einwohner:innen in Bingen waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein akzeptierter und geachteter Teil der Stadtbevölkerung. Sie waren nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt fest integriert. Bereits der Brand der Judengasse und der angrenzenden Häuser im Jahr 1850 rief großzügige Hilfsbereitschaft nicht nur von Juden, sondern auch von Christen in Bingen hervor. Auch Stipendien und wohltätige Stiftungen wurden ohne besondere konfessionelle Einschränkungen von wohlhabenden Menschen aller Religionen gespendet und an die Bedürftigen der Stadt verteilt. Im Jahr 1905 hatten beide jüdischen Gemeinden in Bingen zusammen 720 Gemeindemitglieder. Damit gehörten etwa 8% der Binger Stadtbevölkerung dem jüdischen Glauben an. Als am 21. September 1905 die neue Synagoge in der Rochusstraße eingeweiht wurde, fanden die Feierlichkeiten unter großer Anteilnahme der gesamten Binger Bevölkerung statt. [Anm. 22]
Der Erste Weltkrieg (1914 – 1918)
Ungeachtet der hohen Integration der jüdischen Gemeinde in Bingen, verbreitete seit den 1880er Jahren ein zunehmender Antisemitismus in Deutschland. Trotz der rechtlichen Gleichstellung sahen sich Juden in vielen deutschen Orten noch immer gesellschaftlichen Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber. Im Ausbruch des Ersten Weltkriegs sahen viele Juden daher eine Möglichkeit, ihren Patriotismus für das deutsche Kaiserreich unter Beweis zu stellen und die gelungene Integration in den Nationalstaat zu bezeugen. Daher meldeten sich viele Juden für den Kriegsdienst und kämpften in den Schützengräben Seite an Seite mit ihren christlichen Kameraden, während sich die antijüdischen Vorbehalte in der Gesellschaft ab der Mitte des Krieges verstärkten. Auch Juden aus Bingen kämpften im Ersten Weltkrieg und 19 Männer fielen im Dienst für ihr Land. 1921 wurde in der Synagoge eine Erinnerungstafel mit ihren Namen aufgehängt. Auch jüdische Zivilisten waren als Freiwillige in der Pflege und der Betreuung von Verwundeten tätig oder begründeten Stiftungen für Gefallene und Kriegsversehrte.
Der Erste Weltkrieg endete 1918 und das Deutsche Kaiserreich wandelte sich im Zuge der Novemberrevolution zur Weimarer Republik. Den Juden wurde im Zuge der Niederlage und der Revolution, zusammen mit den Sozialdemokraten, in der sogenannten Dolchstoßlegende die Schuld an der Niederlage des deutschen Heeres vorgeworfen. Demnach wäre das deutsche Heer nicht vom Gegner besiegt, sondern durch den Internationalismus und Verrat, der den Juden unterstellt wurde, von hinten erdolcht worden. Dies verstärkte den Antisemitismus nach dem Krieg erheblich und bot den Nährboden für den nationalsozialistischen Aufstieg in den Krisenjahren der Weimarer Republik. [Anm. 23]
In Bingen führte die Zwischenkriegszeit in den 1920er Jahren zu einer Entspannung der Verhältnisse der beiden jüdischen Gemeinden. Die Trennung des Friedhofs in orthodoxen und liberalen Teil wurde 1925 einvernehmlich aufgehoben. Während der Weimarer Republik genossen Juden Teilhabe am öffentlichen Leben, doch auch in Bingen bekamen die Juden den zunehmenden Antisemitismus und die antijüdische Diskriminierung zu spüren. Dies führte zu einer rapiden Abnahme des jüdischen Bevölkerungsteils und einer zunehmenden jüdischen Auswanderung ins Ausland.
Der Nationalsozialismus und das Ende der jüdische Gemeinde in Bingen (1933 - 1945)
Die anerkannte und geachtete Stellung der Juden in Bingen führte zunächst zu unterdurchschnittlichen Ergebnissen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). So erreichte die NSDAP in den Wahlen 1930 in Bingen nur 8%, im Vergleich zum Ergebnis von 18,5% in Gesamthessen. Bei den Landtagswahlen 1932 erhielt sie nur 28,4% im Vergleich zu 44% Stimmenanteil in Gesamthessen. Dennoch gab es spätestens ab 1933 auch in Bingen antisemitische Hetze und Propaganda in Nachrichten und Zeitungen. Schon im Dezember 1932 wurde der jüdische Friedhof in Bingen durch unbekannte Täter geschändet, Grabsteine umgeworfen und zerschlagen. Als am 30. Januar 1933 Adolf Hitler den Posten des Reichskanzlers übernahm, verstärkte sich die Verdrängung und Ausgrenzung der Juden aus dem Alltagsleben noch weiter. Ab dem 1. April wurde zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen, ab dem 7. April wurden städtische Angestellte jüdischer Herkunft aus dem Dienst entlassen. In Bingen wurde so beispielsweise der stellvertretende Schulleiter der Mittelschule, namens Simon, der schon seit 1903 im Amt war, suspendiert. In der Folge nahm die Emigration Binger Juden zu. 1936 emigrierten der bekannte Rabbiner Dr. Ignaz Maybaum nach Großbritannien und der Religionslehrer und Kantor Isi Bayer nach Palästina. Doch weiterhin verblieben einige Juden in Bingen und die Gemeindevorsteher der beiden jüdischen Gemeinden Dr. Otto Max (Reformierte Gemeinde) und Julius Kahn (Orthodoxe Gemeinde) bemühten sich durch Vorträge und anderen Aktivitäten ein alternatives Gemeindeleben aufrechtzuerhalten. Ab 1938 wurde die sogenannte „Arisierung“ in Bingen forciert, wodurch Geschäfte und Firmen, die sich in jüdischem Besitz befanden, zwangsverkauft wurden.
In der sogenannten Reichspogromnacht, der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, kam es in vielen deutschen Städten zu Gewaltmaßnahmen gegen Juden, die vom nationalsozialistischen Regime organisiert und gelenkt wurden. In Bingen wurden die Wohnungen und Geschäfte, die noch immer in jüdischer Hand waren, demoliert und geplündert. Bereits am 9. November drangen SA-Männer in die Synagoge in der Rochusstraße ein und versuchten das Gotteshaus in Brand zu stecken. Nachdem sie wieder verschwunden waren, gelang es dem Synagogendiener die Flammen zu ersticken. Am Nachmittag des 10. Novembers kamen die NS-Unterstützer jedoch wieder, demolierten die geschmückte Außenfassade und zerstörten die Synagogeneinrichtung. Die Trümmer wurden mit Teer übergossen und gegen 17 Uhr erneut in Brand gesteckt. Diesmal konnte die Synagoge nicht mehr gerettet werden und das Hauptgebäude brannte bis auf die Außenmauern nieder, während die Binger Feuerwehr nur zusah. Die Ruine der Synagoge überlebte den Krieg und blieb bis 1970 weitgehend unangetastet im zerstörten Zustand bestehen. Auch die Synagoge der orthodoxen Gemeinde in der Amtsgasse wurde geplündert, aufgrund ihrer Nähe zu den Nachbargebäude aber nicht angezündet. [Anm. 24]
Im Zuge der Reichspogromnacht wurden reichsweit mehrere tausend jüdische Männer verhaftet und für einige Wochen in Konzentrationslager verschleppt. Auch in Bingen mussten fast alle männlichen Gemeindemitglieder für einige Wochen ins KZ Buchenwald, wo sie unbeschreibliche Erniedrigungen zu erleiden hatten. In Bingen wurden sie vor der Verschleppung von einem Arzt untersucht, dem es gelang, einigen Juden durch die „Diagnose“ von Krankheiten, die ihnen den Aufenthalt unmöglich machen würden, dieses Schicksal zu ersparen. [Anm. 25]
Diese Maßnahmen erhöhten den Auswanderungsdruck auf die deutschen Juden. 1933 hatte bereits ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Bingen verlassen und es befanden sich nur noch 471 jüdische Einwohner:innen in der Stadt. 1939 waren es nur noch 222 Jüdinnen und Juden. Als es 1941 zu Ausreiseverboten und ab 1942 zur systematischen Vernichtung des europäischen Judentums kam, lebten noch 152 Juden in Bingen. Am 20. März 1942 fand der erste jüdische Massentransport in Hessen nach Piaski-Lublin statt. Von 1.000 deportierten Juden stammten 76 aus Bingen. Am 27. September wurden weitere 68 Binger Juden in das KZ Theresienstadt und am 30. September 6 Juden in das sogenannte Generalgouvernement auf dem besetzten polnischen Gebiet verbracht. Am 10. Februar 1943 wurde die letzten zwei jüdischen Bewohner:innen von Bingen nach Theresienstadt gebracht. Nur zwei aus Bingen deportierte Juden überlebten die Shoa: Julius Nathan und Mathilde Amelie Durlacher. Nur wenige Geflohene kamen nach dem Krieg in ihre ehemalige Heimatstadt zurück. Die jüdischen Gemeinden in Bingen, die seit dem Mittelalter beinahe ununterbrochen existierten, wurden 1943 vollständig ausgelöscht. [Anm. 26]
Nachkriegszeit und Erinnerungskultur
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lief die Aufarbeitung der Verbrechen, die an den jüdischen Einwohner:innen Bingens begangen worden waren, nur zögerlich an. In den 1960er Jahren wurden 12 Plünderer der Reichspogromnacht vor Gericht angeklagt. Vier wurden freigesprochen und die restlichen durch Verjährung der Tat nicht verurteilt.
Bis heute bleiben viele Kultgegenstände der wohlhabenden jüdischen Gemeinde in Bingen verschollen. Das städtische Museum soll im Krieg einige Gegenstände sichergestellt haben, die später der Kriminalpolizei übergeben worden seien. Jedoch hat weder das Stadtarchiv noch die Polizei Aktenvermerke über diese Gegenstände oder deren Verbleib, was vermutlich auf die Aktenvernichtung nach dem Ende des NS-Regimes zurückzuführen ist. Möglicherweise wurde eine Reihe von Kultgegenstände auch an das vom NS-Regime geplante „Museum für entartete jüdische Kunst“ in Prag geschickt, wohin viel Material verbracht worden sein soll. Des Weiteren tauchen bis heute bei Antiquitätenhändlern jüdische Kultgegenstände auf, die wohl aus privaten Plünderungen stammen. Gesichert ist eine Torarolle in Mainz, die aus Bingen stammt und seitlich signiert ist. Die wertvollsten überlieferten Stücke der Binger Judengemeinde – eine zweiflügelige mit hebräischen Schriftzeichen verzierte Eingangstür aus der alten Synagoge und eine 80*70cm große Rosette aus rotem Sandstein, die als Traustein genutzt wurde – befindet sich heute im Bezalel-National-Museum in Jerusalem. Ein stark beschädigter Löwenkopf und eine reich verzierte Säule, die vermutlich vom Fassadenschmuck der neuen Synagoge stammen, liegen im Eingangsbereich des jüdischen Friedhofs im Bereich der ehemaligen Trauerhalle. [Anm. 27]
Seit den 1990er Jahren hat die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Erbe in Bingen deutlich zugenommen. In einer vierjährigen Forschungs- und Dokumentationsarbeit des Landesamtes für Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz, die die jüdischen Friedhöfe des Bundeslandes dokumentierte, wurde auch der jüdische Friedhof in Bingen untersucht. Diese Untersuchungen mündeten in der Ausstellung „Ein edler Stein sei sein Baldachin“ am 15. April 1996 in Mainz und am 25. September in Bingen sowie einem dazugehörigen Ausstellungsband. Diese Ausstellung brachte den Anstoß zur Gründung des Arbeitskreises Jüdisches Bingen, der sich die Erforschung, Aufarbeitung und Pflege der verlorenen jüdischen Geschichte der Stadt zum Ziel setzte und bereits vor der offiziellen Gründungsversammlung am 29. April 1998 mit der Arbeit begann. Vom 2. bis 8. Juni 1999 lud der Arbeitskreis unter dem Titel „Wiedersehen mit Bingen“ fünfzehn ehemalige jüdische Binger:innen und ihre Angehörigen zu einem Besuch in ihre ehemalige Heimatstadt ein. Der Arbeitskreis ist auch für die Setzung der „Stolpersteine“ in Bingen verantwortlich, die vor den Häusern der vertriebenen und ermordeten Binger Jüdinnen und Juden eingelassen sind. Und seit 2010 unterhält der Arbeitskreis zusammen mit TifTuf, dem Förderverein für jüdisches Leben in Bingen heute, das Erinnerungs- und Begegnungszentrum im ehemaligen Synagogengebäude in der Rochusstraße. In zahlreichen Publikationen und Veröffentlichen leistet der Arbeitskreis Jüdisches Bingen einen maßgeblichen Beitrag, um die Erinnerung und die jahrhundertelange Geschichte der jüdischen Einwohner:innen in Bingen zu pflegen. [Anm. 28]
Nachweise
Redaktionelle Bearbeitung: Jonathan Bugert
Verwendete Literatur:
- Eyss. Hans-Josef: Geschichte der Juden in Bingen von den Anfängen bis 1905. Bingen 2. überarbeitete Auflage 2017.
- Giesbert, Brigitte/ Goetz, Beate/ Götten, Josef (Hg.): Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Bingen 2015.
- Grünfeld, Richard: Zur Geschichte der Juden in Bingen am Rhein. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Bingen (Nachdruck). Bingen [1905] 2016.
- Leonard, Jörn: Exklusion und Gewalt. Deutsche Juden im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de, URL: https://www.bpb.de/apuz/juedisches-leben-in-deutschland-2021/342693/deutsche-juden-im-ersten-weltkrieg-und-in-der-nachkriegszeit (29.10.2021).
- Strehlen, Martina (Bearb.): „Ein edler Stein sei sein Baldachin…“. Jüdische Friedhöfe in Rheinland-Pfalz. Hgg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz. Mainz 1996.
- Rhode, Matthias: „Tief unter den christlichen Staatsbürgern“? Zur Geschichte der Binger Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bingen 2015.
- Schmandt, Matthias: Lebensbilder Binger Juden aus dem Mittelalter. Bingen 2014.
- Schütz, Friedrich: Die jüdische Gemeinde. In: Bingen. Geschichte einer Stadt am Mittelrhein. Vom frphen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Hrsg. von Helmut Mathy. Bingen 1989. S. 277 - 300.
- Weidenbach, Anton J. (Hg.): Regesta Bingiensia inde ab anno LXXI usque annum MDCCLXXXXIII: Regesten der Stadt Bingen, des Schlosses Klopp und des Klosters Rupertsberg. Aus gedruckten und ungedruckten Quellen. Bearb. von Anton J. Weidenbach. Bingen 1853.
Aktualisiert am: 20.02.2022
Anmerkungen:
- Vgl. Schmandt 2014. S. 6 – 8; Strehlen In: Ein edler Stein sei sein Baldachin. Jüdische Friedhöfe in Rheinland-Pfalz. Mainz 1996. S. 109-147, hier: S. 109. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016, S. 8 – 10; Eyss 2017. S. 14 – 24. Zurück
- Vgl. Eyss 2017, S. 30 – 34. Zurück
- Vgl. Schmandt 2014, S. 8 – 9. Zurück
- Vgl. Schmandt 2014. S. 9 – 11; Strehlen 1996. S. 109. Zurück
- Vgl. Schmandt 2014. S. 12 – 16; Grünfeld {1905] 2016. S. 9 – 10; Strehlen 1996. S. 119. Zurück
- Vgl. Regesta Bingiensia. Bearb. von A. J. Weidenbach. S. 30 – 31; Vigener, RggEbMz Nr. 2047, in: Die Regesten der Mainzer Erzbischöfe , URL: http://www.ingrossaturbuecher.de/id/source/9394 (Zugriff am 11.02.2022). Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 11 – 12. Zurück
- Vgl. Schmandt 2014. S. 16 – 17. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 15 – 16; Strehlen 1996. S. 110. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 15; Schmandt 2014. S. 17 – 19. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 16 – 17; Götten 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 31 – 32. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 17; Strehlen 1996. S. 111. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 42; Eyss 2017. S. 12 – 13. Zurück
- Vgl. Strehlen 1996. S. 111 – 116. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 42; Rhode 2015. S. 5; Eyss 2017. S. 12 – 13. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 25 – 28; Strehlen 1996. S. 116. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 29; Strehlen 1996. S. 117. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 21 – 39; Strehlen 1996. S. 117 – 131; Eyss 2017. S. 61 – 62. Zurück
- Grünfeld [1905] 2016, S. 39. Zurück
- Vgl. Grünfeld [1905] 2016, S. 39; Eyss 2017, S. 58 Zurück
- Vgl. Strehlen 1996. S. 131; Goetz 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 13; Götten 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 44 – 51; Eyss 2017. S. 78. Zurück
- Vgl. Strehlen 1996, S. 141; Leonard: Juden im Ersten Weltkrieg. In: Bpb (29.10.2021). Zurück
- Vgl. Goetz 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 14 – 29; Götten 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 32 – 35; S. 52 – 55. Zurück
- Vgl. Goetz 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 20 – 22. Zurück
- Vgl. Strehlen 1996, S. 141 – 145. Zurück
- Vgl. Goetz 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 24 – 26. Zurück
- Vgl. Giesbert 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 8 – 11; Goetz 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 74 – 77. Zurück