Rheinhessen

Begriffsauswahl:

Karte 44.1 ‘Durchgang zwischen Häusern’, Georg Drenda: Wortatlas für Rheinhessen Pfalz und Saarpfalz, S. 188. [Bild: Georg Drenda (IGL)]

Durchgang zwischen Häusern

In den dichter besiedelten Dörfern (vor allem Straßendörfern) sowie in den Städten Rheinhessens und der Pfalz stehen Nachbarhäuser auch bei engster Bebauung mitunter nicht Wand an Wand. Sie lassen vielmehr einen schma­len Durchgang frei, der in der Regel nicht breiter als einen Meter ist. Der Durchlass diente früher der Aufnahme des von den Hausdächern herabflie­ßenden Niederschlagswassers. Die dunklen und damit schwer einsehbaren Zwischenräume wurden außerdem zur Lagerung von Gerümpel genutzt.

Die im Arbeitsgebiet des Atlasses belegten Bezeichnungen für den schmalen Durchgang zeichnen sich sprachlich dadurch aus, dass sie meistens als Diminutivbildungen auftreten, z. B. Pfädchen, Gässel, Gängel, womit auf die eingeschränkten räumlichen Verhältnisse Bezug genommen wird. Nordwestlich einer gedachten Linie etwa Pirmasens – Ludwigshafen sind die Diminutivformen mit ‑chen konstruiert, südöstlich davon mit ‑el.

Das Wort Pfad, auf dessen Basis die Diminutive Pfädchen und Pfädel gebildet sind, das aber auch als Simplex belegt ist, kommt im Althochdeutschen als pfad in der heute gültigen Bedeutung vor. Die Herkunft des Ausdrucks ist nicht geklärt. Vielleicht besteht Verbindung zu der Wurzel indogermanisch *pent(h) ʻtreten, gehen, worauftreten, antreffen, finden’, die in griechisch pátos ʻWeg, Pfad’ und lateinisch pōns ʻKnüppelweg, Brücke’ Reflexe zeigt.

Ebenso wie Pfad lässt sich auch Gasse etymologisch nicht deuten. Das Wort kommt nur im Germanischen vor. Althochdeutsch gazza umfasst neben dem In­halt ʻGasse’ auch die Bedeutungen ʻQuartier, Stadtviertel’. Ursprünglich be­zeichnete Gasse den ungepflasterten Weg in Dörfern und Städten, Straße hingegen den gepflasterten Verkehrsweg außerhalb und innerhalb von Ort­schaften.

Das Wort Gang, zu dem das in der Karte vorkommende Diminutiv Gängel gehört, gibt es in der Bedeutung ʻschmaler überdachter oder um­schlossener Weg’ auch in der neuhochdeutschen Standardsprache. Dem Ausdruck liegt germanisch *ganga ʻGang’ zugrunde, das ein Verbalabstraktum aus dem starken Verb germanisch *gang-a- (althochdeutsch gangan) ʻgehen’ ist. Als indogermanische Basis lässt sich *ĝhengh- ʻschreiten, Schritt, Schenkelspreitze, Schamgegend’ erschließen. Auf das althochdeutsche Verb gangan gehen das Präteritum (ging) und das Partizip II (gegangen) von neuhochdeutsch gehen zurück. Dem neuhochdeutschen Infinitiv und Präsens hingegen liegt althochdeutsch gēn ʻgehen’ zugrunde, das mit der Variante althochdeutsch gān (bair./fränk.) nur durch Infinitiv und Präsensformen belegt ist. Als Wurzel wird indogermanisch *ĝhē‑, *ĝhēi- ʻleer sein, fehlen, verlassen, fortgehen’ angenommen. Trotz lautlicher Ähnlichkeit sind also althochdeutsch gēn/gān sowie gangan etymologisch miteinander nicht verwandt.

Althochdeutsch winkil hat die Bedeutung ʻWinkel, Ecke’. Gemeint ist zuerst die Ecke, die zwei aufeinanderstoßende Mauern bilden. Daraus werden dann die weiteren Bedeutungen ʻschmaler Zwischenraum, enger Raum’ abgeleitet. Bereits im 10. Jh. beginnt mit der Bildung von trīwinkilī ʻDreieck’ die Er­weiterung auf den geometrischen Bereich. Es ist umstritten, ob Winkel ety­mologisch mit dem Verb winken zusammenhängt, das auf die Wurzel indogermanisch *ṷeng- ʻgebogen sein’ zurückgeht.

Die im Arbeitsgebiet des Atlasses selten belegten Wörter Schlupp sowie Schluff mit der Diminutivform Schlüffchen (dialektal Schliffche) hängen sprachhistorisch zusammen. Das Mittelhochdeutsche weist sluf und slupf auf, beide mit den Bedeutungen ʻdas Schlüpfen, Schlupfwinkel’. Den Wörtern liegt das starke Verb germanisch *sleup-a- ʻschlüpfen’ aus indogermanisch *(s)leub(h)- ʻgleiten, schlüpfen’ zugrunde. Daraus entwickeln sich im Althochdeutschen zwei Wörter. Das eine ist sliofan, das im Mittelhochdeutschen zu sliefen ʻgleiten, schlüpfen’ führt. Dieses starke Verb (neuhochdeutsch schliefenschloffgeschloffen) verschwindet im 17. Jh. aus der Schriftsprache. Heute ist es nur noch in der Jägersprache geläufig mit der Bedeutung ʻin den Fuchs-/Dachsbau kriechen’. Das andere Wort stellt eine Doppelkonsonanz aufweisende Intensivbildung dar, die im Althochdeut­schen als intslupfen ʻentkommen, entschwinden’ und im Mittelhochdeutschen als slüpfen/ slupfen ʻschlüpfen’ belegt ist. Das Dialektwort Schluff ist also eine ablau­tende Bildung zu althochdeutsch sliofan. Schlupp hingegen basiert auf althochdeutsch (int)slupfen, wobei germanisch p im Rheinfränkischen unverschoben bleibt. Die Bezeichnun­gen Schluff und Schlupp sind als ‘Durchschlupf (zwischen Häu­sern)’ zu ver­stehen.

Die im Südwesten des Arbeitsgebietes vereinzelt erfassten Suh-Formen bilden Ausläufer des im Moselfränkischen verbreitet vorkommenden Wor­tes. Dort bezeichnet es neben verschiedenen Arten von Wasserabflüssen, Ableitungsröhren und Abzugskanälen den schmalen Weg zwischen zwei Häusern, über den das Dachwasser abfließt und der somit die Funktion eines Wasserabflusses hat. Das Dialektwort Suh steht im Zusammenhang mit dem Verb germanisch *sūg-a- ʻsaugen’, das auf die lautmalende Wurzel indogermanisch *seuǝ- gleicher Bedeutung zurückzuführen ist. Aus dem germanischen Wort hat sich neuhochdeutsch saugen entwickelt. In diesen sprachhistorischen Kontext gehört das Sub­stantiv Sog ʻsaugende Strömung’, das aus dem Niederdeutschen im 18. Jh. ins Hochdeutsche gelangt ist. Sowohl im Falle von Suh als auch Sog handelt es sich um eine nominale Ableitung von dem Verb saugen. Suh ist also eigentlich als ‘Stelle, die das Wasser aufnimmt („aufsaugt“)’ zu verstehen.

Auf die Funktion als Wasserablauf stellen auch Raul und Räuel mit dem Diminutiv Räulchen ab. Die im Dialekt Raul, Reil, Reilche u. ä. lauten­den Formen werden auf *r(i)uwel zurückgeführt. Es handelt sich hierbei um eine Entlehnung aus einer romanischen Ableitung zu lateinisch rīvus ʻBach, Was­serrinne, Wassergraben’, rīvulus ʻRinnsal, Kanal’. Die lateinischen Formen gehören zu indogermanisch *rei- ʻfließen’.

Literatur- und Ortskürzel-Verzeichnis

Die im Text erwähnte Literatur (Literaturverzeichnis) sowie eine Aufschlüsselung der Ortskürzel (Belegorteverzeichnis) finden Sie unter den entsprechenden Links. 

Mehr zum Thema

Der obenstehende Inhalt ist entnommen aus Drenda, Georg (2014): Wortatlas für Rheinhessen, Pfalz und Saarpfalz. St. Ingbert.

Nach oben