0.11. Formenlehre
Die Formenlehre befasst sich mit der Flexion der Verben, Substantive, Adjektive, Zahlwörter, Pronomen und Artikel. Wie im vorhergehenden Großkapitel 10., das die Dialektlaute behandelt, so ist auch hier eine vollständige Darstellung des grammatischen Teilgebietes weder möglich noch angestrebt. Die sprachlichen Verhältnisse differieren mehr oder weniger von Teillandschaft zu Teillandschaft, ja häufig sogar von Ort zu Ort. Eine umfassende Übersicht hätte das zu berücksichtigen. Vor allem aber zwingt die ungünstige Forschungslage zur Begrenzung (vgl. Kap. 1). Aus dem breiten Themenspektrum des Gegenstandes werden deshalb in diesem Kapitel nur einzelne Aspekte herausgegriffen und beschrieben. Es geht dabei in der Regel um solche sprachlichen Phänomene, die einerseits eine gewisse räumliche Verbreitung haben und demnach als regionaltypisch gelten können und andererseits einen bemerkenswerten Kontrast zur Standardsprache zeigen.
0.1.11.1. Funktion der Tonakzente
Eine wichtige Aufgabe innerhalb der dialektalen Grammatiken kommt den beiden Tonakzenten 1 und 2 zu. Kap. 10.1. behandelt deren historischen und lautlichen Aspekt. Dieser Abschnitt skizziert kurz die funktionale Seite der Rheinischen Akzentuierung, die praktisch in alle Bereiche der Formenbildung hineinspielt. Er ist deshalb den Einzelthemen zur Formenlehre vorangestellt.
Die Rheinische Akzentuierung ist nicht eine bloße Betonungseigentümlichkeit. Sie erfüllt vielmehr, wie gesagt, verschiedene Funktionen auf der Wort- und Grammatikebene. Bei ansonsten gleichlautenden Wörtern kann sie allein Bedeutungsunterschiede konstituieren. Reuter (1989, S. 11‑12, 86‑92) gibt für Horath (Verbandsgemeinde Thalfang) – Geltungsbereich von Regel B (vgl. Kap. 10.1.1.) – folgende Funktionen (hier in Auswahl) mit Beispielen (hier in literarischer Umschrift) an:
- Unterscheidung der Wortbedeutung: gää1s ‘Geiß’ – gää2s ‘(du) gehst’,
- Unterscheidung Singular – Plural: wai1n ‘Wein’ – wai2n ‘Weine’,
- Unterscheidung der Kasus bei Maskulinum und Neutrum Singular: hau1s (‘Haus’ Nominativ/Akkusativ) – hau2s (‘Haus’ Dativ),
- Unterscheidung bei der Adjektivflexion: schee1n (prädikativ) (z. B. die flasch es schee1n ‘die Flasche ist schön’) – schee2n (attributiv) (z. B. en schee2n flasch ‘eine schöne Flasche’,
- Unterscheidung bei Possessivpronomen: mai1n (prädikativ) (z. B. dat es mai1n ‘das ist mein (= gehört mir)’ – mai2n (attributiv) (z. B. dat es mai2n hout ‘das ist mein Hut’.
Anmerkung zur Transkription: Hochgestellte 1 bezeichnet Tonakzent 1
(= Stoßton), hochgestellte 2 bezeichnet Tonakzent 2 (= Schleifton).
Es wird nicht möglich sein, bei den im Folgenden zu behandelnden grammatischen Kategorien (Verb, Substantiv usw.) auf die Rolle der Rheinischen Akzentuierung erschöpfend einzugehen. Diese kann nur exemplarisch berücksichtigt werden. Die Akzentverhältnisse in unserem Gebiet stellen sich als äußerst komplex und variabel dar (vgl. Karte 47), so dass eine detaillierte Darlegung dem angestrebten Überblickscharakter der vorliegenden Publikation zuwiderliefe. Darüber hinaus ist die grammatische Funktion der Tonakzente keineswegs flächendeckend so gründlich erforscht, dass eine zuverlässige Beschreibung für unseren gesamten Raum möglich wäre.