0.12. Wortschatz
Der Wortschatz des Hunsrücker Platt weicht nicht durchweg von dem der Standardsprache ab. Es gibt eine sehr große gemeinsame Schnittmenge. Wörter wie z. B. Tisch, Leute, Mehl, sagen, glauben, groß und schuldig sind Einheiten sowohl des Dialekts als auch der Hochsprache. Differenzen – z. T. beträchtliche – sind allerdings auf der Ebene der Wortlautung gegeben. Die oben aufgeführten Beispiele erscheinen im Hunsrück als Disch, Lait/ Läit, Mehl/Mähl/Mell, saan/sòòn/soon/suun/söön, glaawe/glääwe/gleewe, groß/gruß/größ, schullich/schillich/schöllich. Die phonetischen Unterschiede zwischen Dialekt und Standardsprache, aber auch zwischen den jeweiligen Dialektvarianten untereinander widerlegen jedoch nicht die Tatsache, dass es sich etymologisch jeweils um ein und dasselbe Wort handelt.
Es gibt fernerhin Wörter, die sowohl in den Dialekten als auch im Standarddeutschen vorkommen, allerdings mit Differenzen bei der Bedeutung. Das Wort Galgen beispielsweise hat im Westen unseres Gebietes neben dem Inhalt ʻVorrichtung zum Hinrichten’ die zweite (übertragene) Bedeutung ʻHosenträger’. Das Adjektiv zeitig (dialektal zairich usw.) wird außer im Norden des Hunsrücks im Sinne von ʻreif’ verwendet (Die Äpfel sind zeitig), daneben überall wie in der Hochsprache mit der Bedeutung ʻzu einem frühen Zeitpunkt’. Das Verb sich tummeln (dialektal sech dommele usw.) hat im Platt ausschließlich den Inhalt ʻsich beeilen’, in der gegenwärtigen Standardsprache hingegen bedeutet es ʻumhertollen, sich ausgelassen bewegen’. Hose (dialektal Huse usw.) meint in weiten Teilen unseres Gebietes den ʻStrumpf’, in der Hochsprache indessen das ʻBeinkleid’ (vgl. Kap. 12.1.).
Jeder Dialektwortschatz weist stets einen spezifischen Eigenbestand auf. Dieser rekrutiert sich aus Elementen, die nicht zugleich in der Hochsprache vorkommen. Hierzu zählen in unserem Raum Wörter wie äbsch ʻumgewendet, links, verkehrt (von Stoffen und Kleidung)’, pfetzen (dialektal petsche usw.) ʻkneifen’, Grundbirne (dialektal Grommber usw.) ʻKartoffel’, Hünkel (dialektal Hinggel usw.) ʻHenne’, Zotte (dialektal Zuut usw.) ʻröhrenförmiger oder spitz zulaufender Ausguss an Gefäßen (z. B. bei der Kaffee- oder Gießkanne)’, Schliwwer (und ähnliche Varianten) ʻSplitter, besonders Holzsplitter’. Der Eigenwortschatz kann von Gegend zu Gegend, ja sogar von Ort zu Ort differieren. So wird beispielsweise der ʻSplitter’ im Westen unseres Gebietes Schleiter (dialektal Schleeder usw.) bezeichnet. Dieses Wort kommt im Schliwwer-Areal nicht vor. Der Löwenzahn heißt in Buch (Verbandsgemeinde Kastellaun) Eierschöpfe (dialektal Aaierschepp) und im zwei Kilometer entfernten Mörz Eierbüsche (dialektal Aierpesch).
Der Ursprung vieler Wörter liegt im Dunkeln. Sie lassen sich nach dem heutigen Stand der Forschung nicht herleiten. Manche etymologischen Deutungen beruhen nur auf hypothetischen Grundlagen. Das gilt nicht nur für spezielle Wörter des Dialekts wie Kaule/Kaute ʻflache Grube’, Grutz ʻKerngehäuse des Apfels’, Dutz ʻBeule’ und Zotte ʻAusguss an Gefäßen’ (s. o.), sondern generell, also auch für die Standardsprache, für die die Herkunft von z. B. zaudern, schmarotzen, Pauke und Gnom ungeklärt ist.
Bei verschiedenen Dialektausdrücken kann die Wortgrundlage nicht sicher bestimmt werden. Die Karte 54 Ameise beispielsweise zeigt den Ausdruck Oombisser im rheinfränkischen Hunsrück. Dies ist eine Variante, die mit ziemlicher Sicherheit nicht dem Wort Ameise zuzuordnen ist. Aber die Ausgangsbasis lässt sich nicht zweifelsfrei angeben. Auf Grund der Dialektform kommt sowohl Anbeißer als auch Anpisser (Wortbildung zum Verb pissen ʻurinieren’) in Frage. Im ersten Fall wäre die Ameise als das Insekt, das Pflanzenteile abtrennt, aufzufassen und im zweiten als jenes, das mit Urin spritzt. Ebendieses Benennungsmotiv findet sich auch bei der Zusammensetzung Saj‑/Säjoomes (vgl. die Karte). Das erste Element ist vom Verb seichen ʻurinieren’ abgeleitet, das zweite stellt eine Dialektform zu Ameise dar (mit Verdumpfung von a zu o und Abschwächung von ‑meise zu ‑mes mit e als Reduktionsvokal Schwa). Verhochdeutscht lautet das Gesamtwort Seichameise. Wie ist zu erklären, dass bei manchen Bezeichnungen für die Ameise Urin im Spiel ist? Die Antwort auf die Frage liefert das Verhalten des Insekts bei Bedrohung. In Bedrängnis geraten, versprüht das Tier ein giftiges Sekret. Die Volksmeinung hielt früher das Ameisengift für Urin, wodurch das Motiv für die Bildung entsprechender Wörter gegeben war.
Es kommen ferner Dialektformen vor, bei denen man die Grenze zwischen Wortbildung und Wortschöpfung nicht eindeutig ziehen kann. Um bei dem Beispiel Ameise zu bleiben: Nicht für jeden Beleg lässt sich zweifelsfrei entscheiden, ob er formal noch zu Ameise gehört oder bereits ein anderes Wort darstellt. Bei den sprachlandschaftlichen Varianten Oomessel und Äämessel (vgl. die Karte) scheint noch relativ klar zu sein, dass ihnen Ameise mit der Verkleinerungssilbe ‑el zugrunde liegt. Diminutivbildungen zur Bezeichnung kleiner Tiere sind in den Dialekten nicht unüblich, man vergleiche etwa Wespel ʻWespe’ und Hinggel ʻHenne’. Bei Oomessel ist der Anlaut A- zu O- verdumpft und bei Äämessel ist er zu Ä- umgelautet.
Das Nebeneinander von Oomessel/Äämessel (mit ‑ss-) auf der einen und Oometzel/Äämetzel (mit ‑tz-) auf der anderen Seite (vgl. Karte 54) resultiert wohl aus zwei lautlichen Varianten in germanischer Zeit. Die erste ergab ‑ss- und die zweite ‑tz-. Denkbar ist aber auch, dass in manchen Dialekten ursprüngliches ‑tz- später zu ‑ss- übergegangen ist.
Die Beurteilung der anderen Wortvarianten fällt indessen schwerer. Der Einschub von ‑n- bei Oomensel lässt sich nicht erklären, ebenso nicht der Wechsel – ist es überhaupt ein solcher? – von ‑m- zu ‑w- bei Oowensel. Man kann fragen, ob wir es hier noch mit lautlichen Modifikationen von Ameise zu tun haben oder nicht vielmehr mit völlig anderen Wörtern. Die Frage erscheint noch um einiges berechtigter, wenn man die nicht kartierten Einzelbelege (Seich)hummes (Buch, Verbandsgemeinde Kastellaun) und (Sääj)òònes (Niedermennig, Ortsteil von Konz) einbezieht. Die sprachschöpferischen und sprachspielerischen Kräfte der Dialektgemeinschaft kennen jedenfalls keine Grenzen und kreieren häufig eigentümlich anmutende Ausdrücke.
Der Dialektwortschatz ist über Jahrhunderte durch das ländliche Leben und die in ihm verankerten Berufe geprägt worden. Er beinhaltet Sondergut mit einer starken Differenzierung im Bereich der bäuerlichen Sachkultur, der Nutztierhaltung und des Landbaus. Ich möchte dies exemplarisch demonstrieren. Der Basisdialekt von Heyweiler (Verbandsgemeinde Kastellaun) unterscheidet wie alle Ortssprachen sehr genau die Nutztiere nach verschiedenen Kriterien. Betrachten wir beispielsweise die Wortfelder für Schwein und Rind. Das erwachsene männliche Schwein wird Watz bezeichnet. Der Ausdruck ist wohl lautmalerischen Ursprungs. Für den verschnittenen Eber hat man das Wort Barisch (= Barg), das es bereits gleichbedeutend im Germanischen gibt. Das erwachsene weibliche Schwein heißt Mook. Das Wort ist als mocke im Mittelhochdeutschen bezeugt. Die Herkunft ist unsicher. Vielleicht besteht Verbindung zu einem gleichlautenden Wort, das die Bedeutung ʻKlumpen, Brocken’ trägt. Das Motiv für die Wortübertragung könnte der massig-gedrungene Körperbau der Sau geliefert haben. Die Zusammensetzung Fergelsau (= Ferkelsau) steht für ʻMutterschwein’. Mit Fergel wird das Jungtier bis zur 10./12. Lebenswoche bezeichnet. Das größere Tier wird anschließend Lääfer (= Läufer) genannt, das weibliche auch Brehling (verhochdeutscht: Brühling). Dieser Ausdruck kann damit erklärt werden, dass junge Schweine nach dem Schlachten mit heißem Wasser gebrüht wurden, während bei älteren die Entfernung der Borsten durch Abbrennen erfolgte.
Das männliche erwachsene Rind bezeichnet der Heyweilerer Dialekt Molles. Die Herkunft des Ausdrucks ist unklar. Das verschnittene Tier wird Ochs genannt. Das erwachsene weibliche Rind heißt Kihrind (verhochdeutscht: Kührind) und, wenn es das erste Mal kalbt, Erschtling (= Erstling). Für das männliche Kalb hat man die motivierte Zusammensetzung Molleskalleb und für das weibliche entsprechend Kihkalleb.
Zur Demonstration des Wortschatzes aus dem Bereich der umfangreichen bäuerlichen Sachkultur greife ich als Beispiel den einst von Rindern oder Pferden gezogenen Bauernwagen heraus. Für dessen Bau- und Funktionsteile gibt es in den Dialekten differenzierte Bezeichnungen. Auch hier ziehe ich exemplarisch das Platt von Heyweiler heran. Die Abbildung unten zeigt einen Leiterwagen mit den Dialektbezeichnungen seiner Bestandteile (in Auswahl).
Däistel ist das Dialektwort für standarddeutsch Deichsel. An die Deichsel werden die Zugtiere gespannt. Sie dient zum Ziehen und Lenken des Wagens. Woo – hochdeutsch Waage – ist die Bezeichnung für das an der Deichsel befestigte Querholz, an dem die beiden Sielscheite hängen. Das Sielscheit – Dialektausdruck: Sielschäit – ist das Querholz (Scheit), an dem die Zugriemen (Sielen) der Zugtiere befestigt sind. Das Wort Siele ist mit Seil verwandt. Langfoort heißt in Heyweiler der Längsbalken, der Vorder- und Hintergestell des Wagens miteinander verbindet. In anderen Gegenden hat man hierfür die Bezeichnung Langbaum oder Langwied. Räischäit – verhochdeutscht: Reihscheit – meint das Querholz unter der Langfoort, mit dem die Schenkel der Deichselbacken verbunden sind. Das Waansrad – verhochdeutscht: Wagenrad – ist mit dem Lune, dem ʻAchsnagel’, an der Achse befestigt, damit es nicht abgleitet. Dem Wort Lune entspricht im Standarddeutschen verwandtes Lünse, das ursprünglich eine niederdeutsche Form ist. Beiden Ausdrücken liegt vielleicht eine indogermanische Wortwurzel zugrunde, die ʻbiegen, krümmen’ bedeutet. Demnach wäre der Achsnagel als der ʻKrumme’ aufzufassen (der Nagel wird umgebogen, damit er besser hält). Die Bremse am Wagen heißt Rämm. Das Wort ist verwandt mit standarddeutsch Ramme (ʻGerät zum Einstoßen von Pfählen usw.’). Mit Läter – hochsprachlich: Leiter – wird der Seitenteil des Wagens bezeichnet, der aus zwei Längsstangen mit leiterartigen Sprossen besteht. Die Leitern werden gestützt von den Leuchsen. Das sind senkrecht aufragende Stangen, die am Ende der Radachse angebracht sind. Das Wort Leuchse, dessen Herkunft unklar ist, ist in der Schriftsprache ausgestorben. Im Heyweilerer Dialekt ist die Zusammensetzung Liesestang üblich, die auf Standarddeutsch Leuchsenstange lauten müsste.
Technisierung und Umstellung der Produktionsverfahren haben die Landwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Das von Tieren gezogene Bauernfuhrwerk kommt seit den 1960er Jahren nicht mehr zum Einsatz. Es hat heute seinen Platz neben anderen unmodern gewordenen Gerätschaften im Heimatmuseum gefunden. Auch die früher zum Ortsbild gehörenden Nutztiere sind aus den Dörfern verschwunden. Viehhaltung und ‑zucht werden heutzutage industriemäßig in großen, fabrikähnlichen Anlagen zumeist weit außerhalb der Ortsbebauung betrieben. Das Verschwinden der alten bäuerlichen Sachkultur hat zum Wegbrechen großer Teile des überlieferten landwirtschaftlichen Wortschatzes geführt. Mit den Sachen gehen auch immer die Bezeichnungen verloren. In den Dörfern kam es zur massiven Abnahme der (klein)bäuerlichen Familienbetriebe zugunsten weniger Großbetriebe. In der örtlichen Alltagskommunikation spielen daher für die meisten Menschen agrarische Themen kaum noch eine Rolle. Im modernen Dorfleben ist es nicht mehr notwendig, beispielsweise Nutztiere sprachlich genauestens zu unterscheiden (etwa Mook, Fergelsau, Fergel, Lääfer usw.). Das hat in den vergangenen Jahrzehnten zum Verlust einschlägiger Wörter in den Dialekten geführt. Um so erstaunlicher ist es, dass viele der heute über 70jährigen den alten agrarischen Wortschatz noch sehr gut kennen. In den Basisdialekten ist er – wie das Beispiel Heyweiler zeigt – aktuell noch in bemerkenswertem Ausmaß greifbar.
Einschlägiges Wortgut geht auch verloren, wenn ein Handwerk ganz ausstirbt, ein landwirtschaftlicher Produktionszweig aufgegeben wird oder bestimmte Tätigkeiten überhaupt nicht mehr ausgeübt werden. Der einst im Hunsrück blühende Flachsbau ist vor vielen Jahrzehnten untergegangen. Wörter, die in diesen Kontext gehören, gibt es nicht mehr. Dazu zählen etwa: Schwingstock ʻhölzernes Gestell zur Bearbeitung von Flachs’, Abschwing ʻAbfall von Flachs bei dessen Bearbeitung’, Brechkaule ʻErdvertiefung, in der Flachs geröstet wurde’, Reff ʻkammartiges Gerät, um Fruchtkörner und ‑kapseln des Flachses abzustreifen’ und hierzu das Verb reffen ʻSamenkapseln des Flachses mit dem Reff abstreifen’.
Viele Alltagsgegenstände und ‑verrichtungen spielen in überörtlichen Kommunikationssituationen nur eine untergeordnete Rolle. Das führt dazu, dass bestimmte Ausschnitte des lokalen Wortschatzes kaum in Konkurrenz zu Varianten der Nachbardialekte oder der Standardsprache stehen. Damit erklärt sich das Beharrungsvermögen alter Wortlandschaften und so mancher örtlicher Sprachbesonderheit. Die Karte 54 Ameise demonstriert beispielhaft zum einen die Verschiedenheit der Bezeichnungen und zum anderen das Festhalten an den angestammten Ausdrücken. Das Eindringen von standardnahen Formen wie etwa Ameis, Omeis oder gar hochsprachlichem Ameise in den Basisdialekt ist nicht feststellbar. Ein weiteres Beispiel, das in diesem Zusammenhang genannt werden kann, ist ʻLöwenzahn’. Heute geläufige Hunsrücker Dialektwörter sind: Aierschop, Aierpu(t)sch, (oft ist die Mehrzahl üblicher: Aierschepp, Aierpe(t)sch), Hahnenspeck (im Westen) und seltener: Bettseicher sowie Pissblume (im Westen). Das Wort Löwenzahn kommt – auch in lautlich angepasster Form – in den Basisdialekten nicht vor. Zu Löwenzahn vgl. auch das folgende Kapitel.