Hunsrück

0.10. Sprachlaute und Tonakzente

0.1.10.3. Konsonanten

0.2.10.3.8. Ausfall von ch vor s

waaßen, Oos

Das Verb wachsen kommt in unserem Gebiet in zwei Typen vor: 1. wacksen und 2. waaßen. Die verschiedenen phonetischen Ausprägungen wie z. B. waggsen, wocksen auf der einen Seite und wòòßen, wœœßen auf der anderen sind hier nicht von Belang. Von Interesse ist, dass ch vor s im ersten Fall er­halten bleibt (als k) und im zweiten ausfällt, wobei der Stammvokal gedehnt wird (Ersatzdehnung, vgl. Kap. 10.2.10.). Ein Parallelfall liegt bei Ochse vor. Die Dialekte haben Ocks oder Oos. Die Karte 32 dokumentiert die räumliche Verteilung von wacksen und waaßen einerseits sowie von Ocks und Oos andererseits. Höchst bemerkenswert ist, dass waaßen einen großen Bereich des Hunsrücks einnimmt, während die Variante Oos nur zwei klei­ne Flächen bildet. Darauf werde ich weiter unten zu sprechen kommen.


Um den ch-Ausfall vor s zu erklären, bedarf es eines Blickes in die Sprachgeschichte. Vorab ist anzumerken, dass diese Sprachentwicklung nicht nur in den Hunsrücker Dialekten vorkommt. Sie betrifft auch nicht nur die Wörter wachsen und Ochse, sondern hat allgemeinen Charakter und tritt ebenso bei Fuchs, Achse sechs usw. auf. Im Mittelhochdeutschen heißen die Beispielwörter wahsen, ohse, vuhs, ahse und sehs. In einem Teil der damaligen Dialekte wurde das h als Hauchlaut gesprochen und vor dem Reibelaut s so stark ge­schwächt, dass es ausgefallen ist, woraus waaßen, Oos, Fuus usw. folgten. Dieser Vorgang vollzog sich unter dem Einfluss des Niederdeutschen, das bis heute h-lose Formen bewahrt, vom Niederrhein bis nach Schwaben. Als zeitlicher Rahmen ist das 9. bis 15. Jahrhundert anzusetzen. Im bairischen Sprach­raum war h vor s wohl als Reibelaut vertreten. Dies führte bereits früh zu ks, was wacksen, Ockse, Fucks usw. ergab. Das entspricht den Lautverhältnis­sen in unserer heutigen Standardsprache. Wir schreiben zwar die Wörter mit chs, sprechen aber ks. Unter dem Einfluss der Schriftsprache breiten sich in den Dialekten seit dem 16. Jahrhundert von Südosten (Bayern) nach Norden die For­men mit ks aus und drängen waaßen, Oos usw. zurück.

Das Zurückweichen erfolgt nicht systematisch-generell, sondern wort­weise-singulär. Das belegt exemplarisch sehr eindrucksvoll die Karte 32. Diese zeigt ein umfangreiches waaßen-Gebiet, aber nur zwei kleine Oos-Areale. Die Divergenz beim Voranschreiten von wacksen auf Kosten von waaßen und von Ocks auf Kosten von Oos ist durch den Gebrauchswert der Wörter bedingt. Das Wort wachsen gilt als „neutral“, das heißt es zeichnet sich nicht durch spezielle Verwendungsweisen und ‑bereiche aus. Die Dialekt­form waaßen erweist sich deshalb im Hunsrück als relativ widerstandsfähig gegenüber dem von der Standardsprache gestützten wacksen, das weniger weit und nur im östlichen Teil verbreitet ist. Anders liegen die Verhältnisse bei dem Wort Ochse. Ochsen sind als Nutztiere Handelsobjekte. Sie wurden früher auf Viehmärkten verkauft und gekauft. Heute bedient man sich mo­derner Vertriebswege. Als Bezeichnung für ein Handelsgut ist das Wort Ochse ein sog. Marktwort. Das bedeutet: Das Wort wird nicht nur in der dörflichen Alltagskommunikation gebraucht, sondern es spielt auch beim regionalen und überregionalen Viehhandel von jeher eine Rolle. Bei Ver­kaufsgesprächen hätte der tief dialektale Ausdruck Oos ein Kommunikati­onshindernis dargestellt. Man mied ihn deshalb und verwendete stattdessen das verständliche Ocks(e). Durch häufigen Gebrauch sickerte die neue Form im Laufe der Zeit in die Basisdialekte ein und verdrängte dort bis auf zwei kleine Flächen im nördlichen Hunsrück das ursprüngliche Oos.

Während die waaßen/wacksen-Grenze im linksrheinischen Raum süd­lich der Mosel verläuft, hat Ocks Oos nach Norden über die Mosel hinaus zurückgedrängt. Die Trennlinie verläuft durch die Eifel. Die beiden kleinen Oos-Areale im Vorderhunsrück, die die Karte 32 ausweist, sind Reliktgebie­te, die dem über die Mosel marschierenden Ocks widerstanden und den al­ten Ausdruck behalten haben. Das Zahlwort sechs übrigens, das nicht nur ein Wort des Handels, sondern auch des Mathematikunterrichts ist, wurde in der Lautform sess bis ins Niederdeutsche zurückgeschoben. Die sess/secks-Isoglosse überschreitet heute den Rhein nördlich von Düsseldorf.

Völlig resistent gegen entsprechende Formen mit ks blieb in unserem Gebiet (und darüber hinaus) der Sonderwortschatz der Landwirtschaft. Die überwiegend nur in der bäuerlichen Lebens- und Arbeitswelt verwendeten Bezeichnungen wie Deichsel und Leuchse (letztere im Hunsrück nicht über­all vorkommend) bewahren ihre ursprüngliche Lautform und erscheinen als Däißel, Däisdel u. ä. bzw. Liis, Lees usw. (Die Leuchse ist eine Stütze zwi­schen Achse und Runge des Leiterwagens.)

Abschließend sei noch kurz auf die oben erwähnten Wörter Achse und Fuchs eingegangen. Der Typ Aas ‘Achse’ ist weiter verbreitet als Oos ‘Och­se’. Er reicht von Norden aus gesehen nicht ganz bis zur Mosel, überschrei­tet diese allerdings an ihrem Unterlauf, wo er auf die beiden Hunsrücker Oos-Areale trifft. Außerdem schiebt sich vom Saargau keilförmig ein Aas-Gebiet Richtung Osten bis nördlich Hermeskeil vor. Schließlich gibt es um Morbach eine Aas-Insel im ansonsten von Acks beherrschten Hunsrück. Die ch-lose Form Fuus für ‘Fuchs’ findet sich im Hunsrück überhaupt nicht. Sie ist linksrheinisch bis in den äußersten Westen von Saargau und Eifel sowie im Norden bis fast an die Ahr zurückgedrängt.

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