0.12. Wortschatz
0.1.12.2. Entlehnung
0.2.12.2.1. Lehnwörter aus dem Lateinischen
Als die Franken im 5. Jahrhundert vom Niederrhein über Sieg, Mosel und Lahn bis in die Maingegend vorstießen, trafen sie in den eingenommenen Territorien auf romanische Bevölkerungsreste, die nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft in den rheinischen Landstrichen zurückgeblieben waren. Es spricht einiges dafür, dass das Moselromanische bis um das Jahr 1000 aktive Sprecher hatte. Die Forschung konnte für den Hochwald eine lange existierende romanische Enklave glaubhaft machen. Auf die Römer gehen nicht nur Ortsnamen zurück, vgl. etwa Augusta Treverorum (= Trier) und Castellum apud Confluentes (= Koblenz), sondern viele Ausdrücke des allgemeinen Dialektwortschatzes. Vor allem zeigt der landwirtschaftliche Fachwortschatz romanischen Einfluss. Die Franken kannten keinen Weinbau. Als sie an Mosel und Rhein kamen, übernahmen sie von den Römern mit der Methode der Weinerzeugung auch die dazugehörigen Fachausdrücke. In der Winzerterminologie an Mosel und Rhein findet sich bis heute z. B. das Wort Pand mit der Bedeutung ʻSchimmelbelag auf Wein’. Ursprung ist lateinisch pannus ʻTuch’. Der Bedeutungsübertragung lag wohl die Vorstellung zugrunde, dass der Schimmelbelag sich wie ein Tuch über den Wein breitet. Auch Grane (dialektal Gròòn usw.), das an Ober- und Mittelmosel vorkommt und die einzelne Traubenbeere bezeichnet, ist ein sprachliches Überbleibsel aus der Römerzeit. Grundlage ist lateinisch grānum ʻKorn’. (Der französische Nachfolger dieses Wortes wird im übrigen ebenfalls zur Bezeichnung der Weinbeere verwendet: grain de raisin.) Weitere lateinischstämmige Ausdrücke in der Winzersprache sind z. B.: Ahm (dialektal Òòm u. ä.) ʻFlüssigkeitsmaß für Wein’ aus lateinisch (h)ama ʻEimer’, Term ʻGrenzzeile zwischen benachbarten Weinbergen’ aus lateinisch terminus ʻGrenzstein, Grenze’ und Küfer (dialektal Kiefer) aus lateinisch cupa ʻTonne, Fass’.
Aus dem allgemeinen Wortschatz der Hunsrücker Dialekte wollen wir im Folgenden drei Beispiele für frühe Entlehnungen aus dem Lateinisch-Romanischen näher betrachten:
1. Die Ausdrücke Kändel, Kännel (mit weiteren Lautformen wie z. B. Kundel, Känel) bedeuten ʻDachrinne, Straßenrinne’. Die Varianten mit ‑d- sind im Westen unseres Gebietes verbreitet. Sprachliche Grundlage stellt lateinisch canālis ʻRöhre, Rinne, Wasserrinne’ dar. (Das Wort Kanal gehört etymologisch ebenfalls dazu.) Die Entlehnung erfolgte in voralthochdeutscher Zeit mit der allgemeinen Bedeutung ʻRinne’. Später kam die spezielle Bedeutung ʻDachrinne’ hinzu.
2. In Teilen des Hunsrücks gibt es das Wort Karch (mit verschiedenen Lautformen) in der Bedeutung ʻzweirädriger Karren’. Auch in Zusammensetzungen wie Schuppkarch ʻSchubkarre’ ist es belegt. Karch ist in der Römerzeit aus galloromanisch carruca ʻWagen’ entlehnt worden.
3. Im Ostteil unseres Gebietes sind die Ausdrücke Rail, Raul u. ä. verbreitet. Häufig kommt auch das Diminutiv Railchen vor. Die Formen benennen einen schmalen Durchgang zwischen Häusern. Sprachgeschichtlich lassen sie sich von einem romanischen Wort ableiten, das auf lateinisch rīvus ʻBach’, rīvulus ʻRinnsal, Kanal’ zurückgeht. Welchen sachlichen Zusammenhang gibt es zwischen dem ursprünglichen Inhalt ʻBach, Rinnsal, Kanal’ und der heutigen Bedeutung im Dialekt ʻDurchgang zwischen Häusern’? Die Beziehung wird offenkundig, wenn man sich die frühere Funktion eines „Reils“ vor Augen führt. Dieser diente dazu, das von den Dächern herabfließende Niederschlagswasser aufzunehmen und abzuleiten. Er fungierte gewissermaßen als (Abfluss-)Kanal.
Weitere Beispiele für Entlehnungen aus dem Lateinischen sind: Lammel/Lämmel (westlicher Hunsrück) ʻMesserklinge’ aus lateinisch lāmella ʻdünnes Metallplättchen’, Latwerge (dialektal Lattwerisch u. ä.) ʻObstmus, vor allem aus Zwetschgen’ aus lateinisch ēlect(u)ārium ʻHeilsaft’, Merle (dialektal Määrl, Merdel u. ä.) ʻAmsel’ (westlicher und Moselhunsrück) aus gleichbedeutend lateinisch merula und Kappes ʻKohl’ aus frühromanisch caputia, das zu lateinisch caput ʻHaupt’ gehört.
Darüber hinaus gibt es in unserem Gebiet Wörter lateinischen Ursprungs, die nicht exklusiv auf die Dialekte beschränkt sind. Wortschatzeinheiten wie z. B. Fenster, Käse, Küche, Markt, Pfanne, Pferd, Pforte, Sack und Wein teilen sich die Dialekte mit der Standardsprache. Mehr oder weniger große Unterschiede gibt es selbstverständlich bei der phonetischen Form. Im Hunsrück lauten die angeführten Beispielwörter etwa Feester, Kees, Kich, Pann, Peead, Pòòat, Sack und Wäin. Vgl. auch Senf sowie More ʻBrombeere’ in Kap. 12.1.