Hunsrück

0.12. Wortschatz

0.1.12.2. Entlehnungen

0.2.12.2.3. Lehnwörter aus dem Jiddischen

Seit dem Frühmittelalter wanderten in großer Zahl Juden in das Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz ein. Sie kamen anfangs aus dem romanischen Raum, insbesondere aus Frankreich, wahrscheinlich aber auch aus Italien und von der iberischen Halbinsel. Mainz, Worms und Speyer wiesen schon im 10./11. Jahrhundert ein blühendes jüdisches Gemeindeleben auf. Vor den Pogro­men des Ersten Kreuzzugs (1096) hatte beispielsweise Worms eine um die 1000 Mitglieder zählende jüdische Gemeinschaft. Auch im Hunsrück gab es seit dem Mittelalter Juden. Für Kirchberg etwa existiert ein entsprechender Beleg aus dem Jahr 1303.

Bis zur Flucht, Vertreibung oder Deportation in der Zeit des National­sozialismus lebten in allen Gegenden des Hunsrücks jüdische Familien. Ihre Anzahl war beträchtlich. Im Jahr 1858 gab es z. B. im damaligen Kreis Sim­mern 600 Juden und im Kreis Sankt Goar deren 466. In Thalfang lebten 1843 113 Juden. Sie machten 21 % der Ortsbewohner aus. 1925 gab es dort nur noch 52 Juden. Rhaunen hatte 1895 104 jüdische Einwohner. Ihr Anteil an der Dorfbevölkerung betrug gut 10 %. Bis 1925 re­duzierte sich die An­zahl auf 70 (= 6,5 %). In Laufersweiler (Verbandsgemeinde Kirchberg) wohnten 1895 156 Juden. Sie stellten 20 % der Ortsbevölkerung. Bis 1925 ging ihre Zahl auf 76 zurück. Dörrebach (Verbandsgemeinde Strom­berg) zählte 1858 71 Einwohner jüdischen Glaubens. Das entsprach einem Anteil von fast 10 % an der Gesamteinwoh­nerschaft. 1925 wurden nur noch elf Juden gezählt. Schon die wenigen hier genannten Zahlen belegen, dass die Judenschaft keine verschwindend ge­ringe Minderheit im Hunsrück war, son­dern einen durchaus beachtlichen Anteil an der Gesamtbevölkerung hatte.

Die Juden verdienten ihren Lebensunterhalt überwiegend als (umher­ziehende) Händler. Im damaligen Kreis Simmern beispielsweise waren im Jahr 1858 von 156 erwerbstätigen Juden 102 mit dem Vertrieb von Waren beschäftigt. Das ist ein Anteil von mehr als 65 %. Dieses Zahlenverhältnis dürfte im Großen und Ganzen auch für andere Regionen unseres Raums zu­treffen.

Die im Mittelalter nach Deutschland eingewanderten Juden übernah­men die Sprache ihrer neuen Heimat – das Mittelhochdeutsche –, durchsetz­ten es aber mit den mitgebrachten Wörtern des (nachbiblischen) Hebräi­schen und Aramäischen sowie – im geringeren Ausmaß – des Romanischen. Die später als Jiddisch bezeichnete Sprache wurde mit hebräischen Schrift­zeichen geschrieben. Antisemitische Verfolgungen, Pressionen und Auswei­sungen hatten ab der Mitte des 14. Jahrhundert zur Folge, dass Juden in großer Zahl in den Osten Europas (Polen, Litauen, Weißrussland) zogen. Es kam mit der Zeit zu einer Aufspaltung des Jiddi­schen in Westjiddisch und Ostjiddisch, das slawische Sprachelemente auf­nahm. Uns interessiert hier nur das West­jiddische, das sich im deutschspra­chigen Raum und den angrenzenden Ge­bieten (Oberitalien, Ungarn usw.) etablierte. Die – wie bereits gesagt – aus deutschen, hebräisch-aramäischen und romanischen Elementen zusammen­gesetzte Sprache der Juden bildete sich bis etwa 1500 als eigenständige Größe aus, die sich vom Deutsch der Umgebung deutlich unterschied. Im 18. Jahrhundert begann der Niedergang des Westjiddischen. Ursachen waren die kul­turellen, sozialen und ökonomischen Assimilationsbestrebungen der liberal-urbanen Judenschaft, die bei der Alltagskommunikation das angesehenere Deutsch anstelle des als „verdorbenes Deutsch“ eingestuften Jiddisch ver­wendete. Im Gegensatz zum Ostjiddischen, das sich bis heute auf Grund von Auswanderung vor allem in Nordamerika und Israel behauptet hat, ist das Westjiddische so gut wie ausgestorben.

Die unzählige Jahrzehnte andauernden Kontakte zwischen der jüdi­schen und nichtjüdischen Bevölkerung haben zur Übernahme jiddischen Wortguts ins Deutsche geführt. Hierzu gebe ich im Folgenden einige Bei­spiele aus den Hunsrücker Dialekten. Eine in unserem Gebiet beliebte Spei­se heißt auf Platt Schales. Das ist ein dicker Pfannkuchen aus geriebenen Kartoffeln, Speck und weiteren Zutaten. Das Wort ist aus jiddisch schalet entlehnt, das einen Kartoffelauflauf, der üblicherweise am Sab­bat verzehrt wird, bezeichnet. Es wird vermutet, dass das Wort auf altfranzösisch chauld ‘heiß’ zurückgeht und deshalb möglicherweise noch aus der romanischen Zeit der Juden stammt. Goje/Guje ist ein Hunsrücker Wort für eine ‘alte, schmutzige Frau’. Im Jiddischen bezeichnet es die ‘Nichtjüdin’ wie entspre­chend goj den ‘Nichtjuden’. Grundlage ist gleichbedeutend hebräisch gōj. Das Hunsrücker Adjektiv jauker/joker kann einerseits ‘teuer’ und anderer­seits ‘schlecht, unsicher, zweifelhaft’ bedeu­ten. Auszugehen ist von jiddisch joiker ‘teuer’ aus hebräisch jakar ‘kostbar, selten’. Ein Wort für ‘Ge­säß’ in unserem Gebiet ist Doges. Etymologisch liegt jiddisch tachas ‘der Hintere, Untere’ zugrunde. Das Dialektverb schaskeln steht für ‘übermäßig viel Al­kohol trinken’ (beschaskert/beschaskelt bedeutet entsprechend ‘betrun­ken’). Es geht zurück auf jiddisch schaskenen ‘trinken’. Jiddisch ganwenen ‘steh­len’ erscheint im Hunsrück gleichbedeutend als ganfen/gamfen. Zores hat in den Dialekten teilweise die Bedeutung ‘Lärm, reges Treiben, wirres Durch­einander’ und teilweise ‘Gesindel, Pack, lästige Kinderschar’. Wahr­scheinlich liegen den beiden Bedeutungsklassen zwei ursprünglich ver­schiedene Wörter zugrunde, die später phonetisch zusammengefallen sind. Die erste Bedeutungsklasse gehört zu dem jiddischen Ausdruck zores, Plu­ral von zore ‘Not, Plage, Leiden’, die zweite möglicherweise zu jiddisch zoir ‘Geringer, Niedriger, Kleiner’. Jiddisches Wortgut wurde nicht immer unmittelbar übernommen. In zahlreichen Fällen erfolgte die Vermittlung durch das Rotwelsche. Bei dem oben genannten Beispiel Zores sind jiddisch zores und zoir lautlich zu rotwelsch zores zusammengefallen. Die Entleh­nung in die Dialekte erfolgte danach. Über das Rotwelsche im Platt wird der nächste Abschnitt handeln. Es bleibt noch, darauf hinzuweisen, dass viele jiddische Wörter auch in die Standardsprache Eingang gefunden haben, da­zu zählen z. B. betucht, koscher und mauscheln.

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