Hunsrück

0.6. Dialektvielfalt

0.1.6.1. Lautsysteme im Vergleich: Horath und Beuren

Jede gesprochene Sprache verfügt über eine bestimmte Anzahl von Sprach­lauten. Aus diesen setzen sich die Wörter zusammen. Man unterscheidet Vokale und Konsonanten. Zur erstgenannten Kategorie gehören Laute, bei deren Artikulation der den Mundraum passierende Luftstrom nicht behin­dert wird. Das sind a, ü, o usw. Die Klangqualität wird durch die Position der Zunge und die Formung der Lip­pen bestimmt. Bei a beispielsweise liegt die Zunge flach unten in der Mundhöhle, bei ü ist sie gewölbt und fast bist zum harten Gaumen gehoben. Im ersten Fall sind die Lippen gespreizt, im zweiten gerun­det. Neben einfachen Vokalen, den Monophthongen, gibt es Diphthonge, die jeweils aus zwei ver­schiedenen aufeinanderfolgenden Mo­nophthongen bestehen, wobei vom ersten zum zweiten ein glei­tender Über­gang erfolgt. Zu den Gleitlauten gehören im Standarddeutschen ai (meistens geschrieben: ei), au und oi (geschrieben: eu, äu).

Zu den Konsonanten zählen Laute, bei deren Produktion ein im Mund gebildetes „Hindernis“ überwunden werden muss. Dieses kann z. B. eine Enge sein, so dass die bei der Artikulation durchziehende Luft ein Reibe­geräusch erzeugt, wie etwa bei s oder f. Konsonanten wie b und k hingegen werden hervorgebracht, indem ein im Mundraum vollzogener Verschluss plötzlich gelöst wird. Im Falle von b wird der zu öffnende Verschluss mit beiden Lippen, im Falle von k zwischen Zungenrücken und hartem Gaumen gebildet.

Anzahl und Art der Laute differieren von Sprache zu Sprache. Im Ge­gensatz zum Standarddeut­schen hat z. B. das Englische kein ü. Im Deut­schen wiederum fehlen die beiden Reibelaute, für die im Englischen die Buchstabenfolge th steht (vgl. englisch thick ʻdick’ und then ʻdann’). Auch in den deutschen Dialekten unterscheiden sich die Lautsysteme voneinan­der. Divergenzen kann es bereits zwischen Nachbardörfern geben. Exempla­risch sei das anhand der Hunsrückorte Horath (Verbandsgemeinde Thal­fang) und Beuren (Verbandsgemeinde Hermeskeil) gezeigt, die ca. zehn Kilometer Luftlinie auseinanderlie­gen. Reu­ter (1989, S. 13) hat für den Dialekt von Horath ein Inventar von 40 Lauten (Phonemen) ermittelt. Peetz (1989, S. 7) zählt für Beuren deren 47. Zum Vergleich: Die deutsche Standardsprache verfügt über 39 Phoneme (Philipp 1974, S. 17, 36). Die Differenzen sind vornehmlich im Vokalbe­reich zu verzeichnen. Horath hat 21 Vokale, Beuren 29 und die Stan­dardsprache 18. Exemplarisch seien hier lediglich die langen Monophthon­ge von Horath und Beuren einander gegenübergestellt:

Horath Beuren
īūī ū
ēōēȫ-ō
ĒŌĒȪ-Ō
Ǣ
ā ā

Erklärung der Lautzeichen:
Strich über dem Symbol zeigt an, dass der Vokal lang ist.
ī    wie in standarddeutsch tief
ē    wie in standarddeutsch See
Ē   = offenes ē wie in standarddeutsch Käse
Ǣ  offener als Ē, zum ā tendierend
ā   wie in standarddeutsch Saal
ū   wie in standarddeutsch Stube
ō   wie in standarddeutsch Lob
Ō   = offenes ō
ȫ-  zentralisierter (dumpfer) Laut, ähnlich dem standarddeutschen ö
Ȫ- = offenes ȫ-

Im Vergleich zu Horath hat Beuren drei Langvokale mehr, worauf ich so­gleich zu sprechen komme. Beiden Dialekten gemeinsam sind die Laute ī, ē, Ē, ā, ū, ō, Ō. Mit Ē ist der lange offene e-Laut be­zeichnet, wie er auch in standarddeutsch Käse und Säge vertreten ist. Ō steht für den langen offenen o-Laut. Im Standarddeutschen kommt dieser nicht vor, er entspricht dem englischen Vokal in tall ‘groß’. Beuren verfügt zusätzlich über einen dritten langen e-Laut. Dieser durch Ǣ wiedergegebene Vokal ist offener als Ē, weshalb er als überoffenes ē bezeichnet wird. Phonetisch tendiert der im Hochdeutschen nicht vorkommende Laut zu ā. Als Beispielwörter lassen sich nennen: dǢk ‘Decke’, Ǣpel ‘Äpfel’, schtǢn ‘Steine’. Offenes Ē haben hingegen z. B. dĒsch ‘Teig’ und gĒs ‘Geiß’. Ǣ und Ē sind nicht bloß be­langlose Lautvarianten. Das Wortpaar wĒsch ‘weich’ und wǢsch ‘Wäsche’ belegt, dass Ē und Ǣ bedeutungsunterscheidende Funktion haben und ihnen somit eine wichtige Aufgabe im Lautsystem zukommt.

Der Dialekt von Beuren weist zudem die zentralisierten Vokale ȫ- und Ȫ- auf, die Horath nicht hat. ȫ- entspricht lautlich nicht ganz dem standard­sprachlichen ȫ, wie es etwa in Öl und böse realisiert wird. Der Dialektvokal wird in der Mitte des Mundraums (zentralisiert) und mit kaum gerundeten Lippen artikuliert, wohingegen hochdeutsch ȫ weiter vorn und mit voller Lippenrundung hervorge­bracht wird. Dadurch klingt dialektales ȫ- dumpfer als hochsprachliches ȫ. Zudem haben die beiden Laute eine unterschiedliche sprachhistorische Herkunft, das heißt Dialekt-ȫ- steht nicht für Standard-ȫ und umgekehrt. Die folgende Gegenüberstellung von Wortbeispielen macht das deutlich:

Beurener DialektStandarddeutsch
dȫ-schtDurst
nȫ-tNot
rȫ-sRose
bēsböse
flēFlöhe
hēlHöhle
rǢkRöcke

Man sieht: Beurener Ausdrücken mit ȫ- entsprechen im Standarddeutschen Wörter mit u oder o und hochsprachliches ö erscheint in Beuren entrundet als ē oder Ǣ (zur Entrundung vgl. Kap. 10.2.4.). Der zweite zentralisierte Vokal Ȫ- wird im Prinzip wie ȫ- gebildet, ist aber offen. Als Belege lassen sich nennen: rȪ-t ‘Rad’, Ȫ-der ‘Ader’ und mȪ-s ‘Maß’. Um den phoneti­schen Unterschied zwischen den zentralisierten Lauten und ö, Ö der Stan­dardsprache hervorzuheben, werden jene mit - hinter dem Symbol bezeich­net (ȫ-, Ȫ-). Mit der Zentralisierung befasst sich das Kap. 10.2.9.

Die Kurzvokalsysteme von Horath und Beuren entsprechen im Prinzip den jeweiligen Langvokal­systemen. Die Diphthonginventare zeigen, bedingt durch Zentralisierung in Beuren, partiell Differen­zen. Die Konsonanten ent­sprechen einander in beiden Dialekten. Der stichwortartige Überblick möge an dieser Stelle hinreichen. Es geht hier nicht darum, eine vergleichende Lautgrammatik zweier Orts­dialekte zu erarbeiten, sondern exemplarisch zu demonstrieren, dass der Lautbestand (und dieser steht hier stellvertretend für andere grammatische Erscheinungen und den Wortschatz) von Ort zu Ort sogar beträchtlich divergieren kann. (Zu Wortschatzunterschieden vgl. Kap. 6.2.)

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