Hunsrück

0.10. Sprachlaute und Tonakzente

0.1.10.2. Vokale

0.2.10.2.9. Zentralisierung

Üwe, Röös, Bröut

Im Südwesten des Hunsrücks haben wir es mit einer besonders bemerkens­werten Lautentwicklung zu tun, die bereits beim Vergleich der Lautsysteme von Horath und Beuren (vgl. Kap. 6.1.) thematisiert wurde. Wie sonst nir­gends in der Mittelgebirgsregion gibt es dort die Vokale ü, ö œ und öu. Das Wort Rose beispielsweise heißt, wie Karte 18 zeigt, Röös, wohingegen der restliche Hunsrück Roos oder Ruus aufweist. Ebenso haben fröh ‘froh’ und Dööscht ‘Durst’ – um noch diese beiden Beispiele zu nennen – ein ö. Das ö kommt auch in einer offenen Variante vor, die hier mit dem Zeichen œ wie­dergegeben wird. Als Wortbeispiele mit diesem Vokal lassen sich anführen: Nœœt ‘Naht’, Nœœs ‘Nase’ (vgl. Karte 14) und Nœœl ‘Nagel’. Die anderen Hunsrücker Dialekte haben beispielsweise im Fall von Nase: Noos, Nòòs oder Naas. Ein ü findet sich bei Ausdrücken wie güüt ‘gut’ und Üwe ‘Ofen’. Ansonsten heißt es in unserem Gebiet guut, goot oder gout bzw. Uwe oder Owe. Den Diphthong öu weisen z. B. auf: Bröut ‘Braut’ und Röup ‘Raupe’. In den anderen Teilen der Region sagt man dagegen Braut oder Brout bzw. Raup oder Roup. Die Vokale ü, ö sowie œ kommen auch als Kürzen vor, vgl. etwa gestürf ‘gestorben’ und Bœddem ‘Boden’.


Man darf das ü, ö und œ des Dialekts (auf öu komme ich später zu sprechen) nicht mit dem hochsprachlichen ü, ö, œ wie es z. B. in Mühle, Öl bzw. Götter vorkommt, verwechseln. Es gibt sowohl lautliche als auch sprachgeschichtliche Divergenzen. Zu den lautlichen Differenzen: Der pho­netisch nicht Geschulte wird zwischen den Dialektvokalen sowie den stan­dardsprachlichen Vokalen keinen Unterschied hören. Der auf Sprachlaut­erkennung und ‑beschreibung spezialisierte Phonetiker aber wird folgendes feststellen: Bei der Hervorbringung des dialektalen ü, ö und œ sind die Lip­pen weniger rund geformt als beim voll gerundeten hochsprachlichen ü, ö und œ. Zudem liegt die Zungenwölbung mehr in der Mitte des Mundraums, während sie sich bei den hochdeutschen Lauten ein wenig weiter vorne be­findet. Dadurch klingen die dialektalen ü, ö und œ dumpfer und matter als die volltönenden ü, ö, und œ des Standarddeutschen. Da die Dialektvokale – wie gesagt – fast in der Mitte (Zentrum) des Artikulationsraums gebildet werden, nennt man sie zentralisiert. Die Vokale des Hochdeutschen hinge­gen werden als Umlaute bezeichnet.

Mit dem lautlichen Unterschied beider Vokalgruppen korrespondiert ein sprachhistorischer. Die zentralisierten Vokale haben eine andere Her­kunft als die Umlautvokale. Nehmen wir beispielsweise die standardsprach­lichen Wörter grün und Köpfe. Ihnen entsprechen im Mittelhochdeutschen ebenfalls Aus­drücke mit Umlaut, die grüen bzw. köpfe lauten. In den Dialekten sind ü und ö allerdings zu i bzw. e entrundet (vgl. Kap. 10.2.4.). Die Beispielwör­ter heißen demnach griin bzw. Kepp. Die zentralisierten Vokale der Dialek­te hingegen haben keine historischen Vorläufer mit den Umlauten ü oder ö. Sie gehen vielmehr auf mittelhochdeutsche Vokale vom Typ U, O, A sowie auf den Di­phthong uo zurück. Aus der folgenden Gegenüberstellung wird das ersicht­lich:

DialektMittelhochdeutschNeuhochdeutsch (Standard)
grüngrüengrün
KeppköpfeKöpfe
ÜweovenOfen
güütguotgut
DööschtdurstDurst
RöösrōseRose
NœœtnātNaht
NœœsnaseNase

Die Entwicklung zentralisierter Vokale war nur möglich, weil es die Umlau­te ü und ö im Dialekt nicht gibt – diese sind ja zu i bzw. e entrundet (s. o.). Andernfalls wären sich die beiden sehr ähnlich klingenden Vokaltypen in die Quere gekommen.

Der zentralisierte Diphthong öu – vgl. oben die Beispiele Bröut ‘Braut’ = mittelhochdeutsch brūt sowie Röup ‘Raupe’ = mittelhochdeutsch rūpe – kommt (auch so ähnlich) im Hochdeutschen nicht vor. Er steht für mittelhochdeutsch ū, das in den Hunsrücker Dia­lekten ansonsten zu ou oder au wird, vgl. entsprechend Brout/Braut und Roup/Raup. Seltener ist die Entwicklung von mittelhochdeutsch uo zu dialektal öu zu be­obachten (hingegen häufiger zu ü (s. o.)). Als Beleg kann göut (mittelhochdeutsch guot) genannt werden. Der Ausdruck tritt teilweise neben zentralisiertem güüt auf. Der übrige Hunsrück hat gut, got oder gout. Im Standarddeutschen heißt es gut. Die folgende Gegenüberstellung zeigt die mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen Entsprechun­gen von dialektal öu anhand der besprochenen Beispiele:

DialektMittelhochdeutschNeuhochdeutsch (Standard
bröutbrūtBraut
göutguotgut

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