Jugend unter dem Hakenkreuz - Das Dritte Reich in Rheinhessen
Bemerkung
Auch im Kapitel 3.3. verarbeitete Eichberger im Rückblick frühe Kindheits- und Jugenderinnerungen. Dabei schildert er die Kriegserlebnisse in der Region Rheinhessen. Explizit wird auch die Judenverfolgung thematisiert, deren Zeuge er 1938 wurde.
Ab dem Jahr 1942 schrieb er chronologisch und zeitnah an seinen Aufzeichnungen weiter.
1938
1938 durfte ich mit dem Jungvolk die Ostmarkfahrt (siehe Abbildung 10) nach Bayern miterleben (s. das Buch „Frohes Wandern“) … [Anm. 1] Orte: Straubing, Lam, Cham, Fürth im Wald, Bayrisch Eisenstein, Großer Arber, Berg Osser, Bayreuth mit Besichtigung des Festspielhauses.
Judenverfolgung:
Von Armsheim war schon seit jeher bekannt, daß es kein Juden-Freund war. Nur eine Familie wohnte in der Hauptstraße 40. Es war der Rindsmetzger [Anm. 2] Ludwig Bronne mit Frau und zwei Töchtern, Ruth und Trudel. Er war ein gutmütiger Mann, der mit befreundeten Bürgern Skat spielte und Ausflüge mitmachte. (siehe Abbildungen 11, 12 und 13) Niemand hatte er betrogen oder etwas zuleide getan. Mit fast 13 Jahren war ich Zeuge der Judenverfolgung hier in Armsheim.
Am 10. November 1938 kam bei Tag eine Horde SA-Männer von Wöllstein, stürmte die Wohnung und den Laden, sie schmissen Bettzeug und Möbel aus dem ersten Stock und warfen Rindswürstchen auf die Straße. Der Nachbar gegenüber Johann Schnell 7. machte seinem Schrecken Luft und sagte dazu: „Das ist doch e Schand!“
Ein Hitlerjunge von hier, H. F. [Anm. 3] , montierte das kleine Firmenschild zwischen Fenster und Tor ab. Er kam vom Krieg nicht mehr zurück …
Die hiesige SA war auswärts eingesetzt.
Auch unsere Lehrerfamilie kaufte vorher bei Herrn Bronne ein. Wir Kinder bekamen dabei Matzen geschenkt, ein jüdisches Backwerk ohne Geschmack. Als die Judenverfolgung schlimmer wurde, musste unsere Familie den Einkauf dort einstellen. Ein Nachbar soll die Kundschaft weiterverraten haben. [Anm. 4]
Es hieß, Ludwig Bronne war einmal in Wiesbaden beschäftigt. Er soll mit der Familie nach Polen transportiert worden sein.
Wenn früher jemand ins Jenseits ging:
War ein Mensch dem Tode nahe, so riefen die Angehörigen den Pfarrer, der dem Schwerkranken die Letzte Ölung bzw. die Krankensalbung verabreichte. Dabei wurden ihm die Stirn, Hände und Füße gesalbt und die entsprechenden Gebete gesprochen. Wenn möglich, erhielt er auch noch den Leib des Herrn als Wegzehrung. Auch nachts und bei Wind und Wetter ging der Küster (Kirchendiener) dem Geistlichen voraus mit der brennenden Laterne zum „Versehgang“.
War die Schwelle zum Tod überwunden, untersuchte der Leichenbeschauer den Toten und bestätigte das Ableben. In der Verlautbarung hieß es dann „gestorben ohne ärztliche Hilfe“.
Die Leiche wurde dann von der „Ungerlies“, einer im Ersten Weltkrieg hier gebliebenen Ungarin, gewaschen und umgekleidet. Der Schreiner fertigte nach Maß den Sarg.
Dann wurde die Leiche daheim in der Stube aufgebahrt, während eine Kerze brannte. An warmen Tagen wurde eine Wanne mit Stangeneis unter den Sarg gestellt. Der Tote bekam ein Sterbekreuz oder einen Rosenkranz in die gefalteten Hände.
Eine gute Bekannte benachrichtigte die Nachbarschaft und Verwandten. Der Küster machte den Tod durch Glockengeläut bekannt.
Auf der Bürgermeisterei wurde der Tod gemeldet, das Grab bestellt und mit dem Pfarrer der Beerdigungstermin festgelegt.
Der Friedhofswärter schaufelte das Grab aus, aber nicht an einem Tag, sondern auch noch den Rest am darauffolgenden, weil der Aberglaube dies forderte, sonst würde Unheil passieren.
Am Tag der Beerdigung stand der Sarg aufgebahrt im Hof, von Kränzen der Trauergäste umgeben. Auf Wunsch konnten die Trauernden den Toten noch einmal sehen. Dann wurde der Deckel für immer verschlossen. Davor stand ein Tischchen, darauf ein Kreuz, zwei Kerzen und Weihwasser mit einem Buchsbaumzweig. Die Trauergäste bekreuzigten den Sarg mit Weihwasser.
Wenn der Pfarrer mit den Meßdienern am Hof eingetroffen war, läuteten die Glocken bis zum Eintreffen auf dem Friedhof. Der Pfarrer betete im Hof mit den Gläubigen abwechselnd den Psalm „Aus der Tiefe rufe ich zu dir, oh Herr.“
Von vier Leichenträgern wurde der Sarg auf den Leichenwagen gehoben. Dieser stammte von 1903 und war vom Bürgermeister gestiftet worden. Die Träger bekamen zur Entlohnung jeder eine Flasche Wein und Leichenkuchen.
Der evangelische Pfarrer kam mit seinen zukünftigen Konfirmanden, die die Kränze trugen und am Grab sangen. Bei großen Beerdigungen waren es schon mal 100 Kränze, die teils an den Leichenwagen [Anm. 5] gehängt wurden. Manchmal mussten die restlichen Kränze nachgeholt werden.
Bei den Katholiken marschierten vor dem Wagen die Meßdiener mit Kreuz, Weihrauchkessel und Weihwasser, dann der Pfarrer. Hinter dem Sarg die Träger, die Angehörigen und die Gemeinde. Wenn der oder die Verstorbene ledig war, ging ein weiß gekleidetes Mädchen mit einer Brautkerze dem Sarg voraus.
War der Verstorbene in einem Verein gewesen, so folgte auch die Fahne des Vereins. Als Mitglied der Kirchenmusik oder des evangelischen Posaunenchors wurde der Tote mit Musik geehrt.
Bei den evangelischen Toten wird heute noch der Lebenslauf geschildert, während bei den Katholiken dies weniger der Fall ist. Nach der Beerdigung trafen sich noch einmal die Verwandten und guten Bekannten zum Leichenschmaus. Beim Abschied bekam jeder eine Tüte Leichenkuchen für seine Angehörigen.
Bei den Katholiken wurden an drei verschiedenen Tagen drei Seelenämter gehalten. Dabei stand im Kirchengang eine Tumba [Anm. 6], die einen aufgebahrten Sarg darstellen sollte. Daneben sechs Leuchter mit Kerzen.
Selbstmörder erhielten früher keine kirchliche Beerdigung und ein Grab am Rande des Friedhofs.
1939
Ein Jahr darauf fuhren wir (mit der Hitlerjugend) nach Eger ins Zeltlager (in Böhmen. Die Vorfahren meines Großvaters Eichberger, also auch meine, stammen aus Böhmen.) (s. im Buch „Frohes Wandern“).
An Pfingsten fuhr ich mit Herrn (Lehrer) Balß in seine Heimat, den Odenwald. Wir fuhren mit dem Rad über Alzey-Worms und die Ebene zwischen Rhein und Odenwald nach Gadernheim. Von hier unternahmen wir Märsche und Radfahrten nach Lindenfels, der „Perle des Odenwalds“, nach dem Feldberg mit dem Felsenmeer und dem Ohlyturm sowie nach dem Kaiserturm.
1. September 1939 (der Zweite Weltkrieg beginnt)
In den ersten Wochen hatten wir sehr viel Einquartierungen. Fast jeden Tag rollten unsere schweren Geschütze, marschierten kräftige Soldatenschritte und galoppierten schneidige Reiter und Wagengespanne durch unsere Ortsstraßen.
Am 6. November 1939, 11.14 Uhr wurde ein feindlicher Bomber bei St. Johann abgeschossen, was wir beobachten konnten. (Der Pilot kam ums Leben. Von Armsheim konnten wir Schulkinder den Absturz beobachten. Mehrmals wurden feindliche Flugblätter von Flugzeugen abgeworfen, darauf Kriegspropaganda. Wir Kinder mussten oder durften einem Parteigenossen helfen, diese einzusammeln, besonders im freien Feld.
Ein Flugblatt lautete: „Bad Kreuznach wollen wir verschonen, wir wollen später in ihm wohnen.“ Und wirklich waren später viele amerikanische Kasernen und Amerikaner dort.
In Armsheim waren auch Plakate an Tafeln oder Wänden, worauf ein dunkler Mann abgebildet war mit der Aufschrift „Vorsicht, Feind hört mit.“
Ferner war mit einem Plakat „Kohlenklau“ zum Sparen der Heizung aufgefordert worden.)
An ruhigen Tagen konnten wir den Kanonendonner der Westfront hören.
Ab Weihnachten lernte mich Herr Balß Schach, das „königliche Spiel“.
Kurz vor Ausbruch des Krieges besuchte uns das neue Luftschiff LZ 130 („Graf Zeppelin II“) [Anm. 7] während seiner Deutschlandreise. Es kreuzte von allen Richtungen kommend unseren Ort ein paar Stunden. (Armsheim)
„Sturzkuchen“:
Ich sollte für meine Großmutter Emrich einen Kuchen vom Bäcker abholen. Der Kuchen war von meiner Großmutter daheim zubereitet worden, dann beim Bäcker abgegeben und dort im großen Ofen gebacken worden. Großmutters Kuchen wurde unter den anderen dort gebackenen herausgesucht und mir überreicht. Ich hatte das Fahrrad dabei und war ja praktisch veranlagt. Also hing ich den Gaumenschmaus an den Lenker und fuhr die Oberpforte hinauf zur Großmutter. Auf einmal machte sich der Kuchen selbstständig und fiel auf den damals noch nicht geteerten Boden und brach dabei auseinander. In meiner Not steckte ich den nun mehrteiligen Inhalt der Backform wieder zusammen. Aber die Großmutter bemerkte sogleich mein Ungeschick. So bekannte ich mein Unglück, doch die gute Frau hatte Verständnis dafür. Plötzlich erschrak sie, denn das war gar nicht unser Kuchen, sondern ein fremder. Ich brachte ihn zurück zum Bäcker und er suchte unseren Kuchen heraus. Da Kriegszeit war, mussten wir noch die Zutaten wie Mehl, Zucker, Milch und Eier ersetzen, denn die „Amme-Beschten“ brauchte ja wieder Ersatz für ihren „Sturzkuchen“.
1940
Von Ostern 1940 ab besuchte ich die Handelsschule in Bingen mit Englisch und Kurzschrift und wohnte dort bei meinen Verwandten, wo es mir gut gefiel. Bei dem Stiefbruder meines Vaters Georg Mischler und Familie Ludwig Nau. In der Handelsschule lernte ich meinen Schulkameraden und Notenkonkurrenten Adolf Bremmer aus Waldalgesheim kennen. In Bingen erhielt ich Klavierunterricht.
Am 24.5. besuchten uns zum erstenmal die Engländer und warfen einige Bomben in der Umgegend von Bingen nachts um 1 Uhr ab.
Vom 7. auf 8. Juni warfen die Briten auch Bomben in unserer Straße (Bingen, Gaustraße), was jedoch ohne Menschenverluste abging. [Anm. 8][Anm. 9]
Aber desto inniger verfolgten wir die Siege unserer Truppen in Frankreich. Und kurz vorher waren Norwegen und Dänemark erobert worden. [Anm. 10]
Am 25. Juni 1940 war der Waffenstillstand in Frankreich.
Rudi und ich radelten einmal nach Abenheim zu unseren Verwandten, wo wir einige Tage zubrachten. Ein Schwein hatte Junge bekommen, und wir hielten Wacht, damit sie ihre Kleinen nicht zerdrückt oder frißt (Juni 1940), eine ganze Nacht hindurch … [Anm. 11]
1941
In Bingen lernte ich auch Frau Wohlgemuth kennen, eine alte, blinde Frau, sie bleibt mir unvergessen. Als ich im 2. Jahr die Handelsschule von Armsheim aus mit dem Zug besuchte, lernte ich Friedrich Pfeiffer kennen. Die Stadt Bingen war durch Flieger gefährdet.
Im Frühjahr 1941 begann der Kampf gegen Griechenland und Südslawien, im Sommer gegen Rußland. [Anm. 12] [Anm. 13] [Anm. 14] … [Anm. 15] Es war in diesem Jahr ein einzigartiger Siegeszug, den unsere Soldaten vollbrachten. [Anm. 16]
Im Sommer besuchten wir die Wallfahrt in Pfaffen-Schwabenheim mit dem Rad, die immer feierlich abgehalten wurde.
Auch die Firmung Rudis wurde mitgefeiert, die in Gau-Bickelheim stattfand (6.7.1941).
Im August 1941 war ich in Lonsheim während der Ferien. Wir hatten tagsüber schwer gearbeitet. Die Nacht zum 6.8. war mondhell und windstill. Ich wurde durch das Brummen feindlicher Flieger aufgeweckt, als auch schon im selben Augenblick Bomben surrten und krachten.
Tante war gleich im Hof und stellte in ihrem Schreck fest, daß es im Schuppen, Hof und Dach des Wohnhauses sowie in Nachbargehöften brannte. Wir löschten mit Sand und Wasser. Die Brandbombe auf dem Dach und ihr kleiner verursachter Brand wurde mit bereitstehendem Wasser und einer Weinbergsspritze bald von Onkel Jakob Jacobs eingedämmt. In unserem Gehöft Jakob Jacobs waren allein neun Brandbomben gefallen, davon eine 30 cm von der Scheune entfernt.
In dieser Nacht fielen auch zwei Sprengbomben unweit von Lonsheim in die Weinberge. Im Ort brannte es an elf Stellen, u. a. wurden ein ganzes Gehöft und der Heuschuppen unseres Nachbarn eingeäschert. Bei unserem Nachbar Barth brannte die Scheune, wobei der Giebel auf die Straße fiel. [Anm. 17]
Dann kam der russische Winter. Doch unsere Soldaten hielten stand. So konnten auch wir Schüler im Schutz der deutschen Wehrmacht unserer Arbeit nachgehen und uns für die Abschlußprüfung der Handelsschule Ostern 1942 vorbereiten. [Anm. 18]
1942
Abschlußprüfung:
Sie glückte tadellos, und das war die Gewähr für einen guten Beruf. Wir Handelsschüler hielten in Rüdesheim noch eine Abschlußfeier ab, an der jeder wegen seiner Fehler und Eigenschaften in Gedichtform geuzt [Anm. 19] wurde.
Ostern 1942 wandte sich dann jeder seinem Beruf zu. Somit begann der Ernst des Lebens. Im April 1942 wurde ich kaufm. Lehrling bei der Firma Chr. Adt. Kupferberg & Co. in Mainz. (siehe Abbildung 14)
Mit der Firma erlebte ich einen schönen Betriebsausflug in Oppenheim und auf der Landskrone. Wir besichtigten die Katharinenkirche mit dem Gebeinhaus. In der Landskrone wurden u. a. Theaterstücke aufgeführt, wo ich in dem Hans-Sachs-Spiel „Das Kälberbrüten“ den Bauern spielte.
Als ich im Sommer meinen Urlaub verbrachte, bombardierten die Engländer mein goldenes Mainz. Wir konnten von Lonsheim aus am Horizont die Verheerungen ahnen. [Anm. 20] [Anm. 21]
Als ich zum erstenmal Nachtwache bei der Sektkellerei Christian Adalbert Kupferberg in Mainz schieben mußte, vom 24. auf 25. August 1942, war wieder ein Angriff auf Mainz, wobei unmittelbar neben Kupferberg, also unweit des Bahnhofs, eine Luftmine niederging.
Jedoch kam das Gebäude außer mit Dachschaden und Bürozerstörungen gut davon. Wir waren in den Kellern, die in sieben Schichten übereinanderliegen, gut geborgen.
1943
Nachdem die Briten schon so viele Städte und Ortschaften angegriffen hatten, belegten sie in der Nacht vom 10. auf 11. April das Rhein-Main-Gebiet. (siehe Abbildung 16) In Armsheim fielen am Friedhof viele Brandbomben, wodurch drei Scheunen abbrannten. Eine Scheune von Heinrich Welker und zwei Scheunen von Eduard Fichtner. Die Feuerwehr, in der ich schon eine Zeitlang stehe, hat ihr Mögliches getan und nachts von ½ 3 bis 8 Uhr gelöscht. Die Gasmaske hat sich in dem Qualm gut bewährt.
Im Mai nahm ich an einem Wehr-Ertüchtigungslager in Sauerberg bei Kaub (Rhein) teil.
Der diesjährige Betriebsausflug war recht nett. Wir fuhren mit dem Rheindampfer von Mainz nach Assmannshausen und zurück.
Im Juni 1943 war Musterung. Wir wurden in Alzey gemustert und feierten dies in Armsheim bei Eierpfannkuchen und Getränken. Humorvolle Gedichte gestalteten die Feier recht nett.
An einem schönen Sonntag machten mein Freund Friedrich Pfeiffer und ich eine Radfahrt von Gau-Bickelheim nach Oppenheim, Mainz-Kastel, Geisenheim, Biebelsheim.
Im August 1943 wurde ich zum Hauptscharführer in der Hitler-Jugend ernannt. [Anm. 22]
Bruder Heini war wegen seiner Erfrierungen und Erkältung, die er sich in Rußland am Ilmensee zugezogen hatte, schon in vielen Lazaretten gewesen und war nun in die Eifel verlegt worden. Hier besuchte ich ihn im September 1943 im Kloster Himmerod (siehe Abbildung 15) mit seinem Freund Erich Martin. Dann kam Heini nach Armsheim zu den Großeltern.
Nach dem Angriff auf Frankfurt [Anm. 23] [Anm. 24] wurde die Hitler-Jugend am 17. Okt. 1943 zum Aufräumen und Bergen der Opfer eingesetzt. U. a. halfen wir beim Bergen von 17 Toten aus einem halb eingestürzten Keller. Ich erinnere mich noch gut an den üblen Verwesungsgeruch, der in der Stadt lag.
1944
Am 30. Januar 1944, als Vater 57 Jahre alt wurde, starb Heini im Alter von nahezu 22 Jahren an der sich im Osten zugezogenen schweren Krankheit und ruht nun auf dem Friedhof in Armsheim. (siehe Abbildungen 17 und 18).
Wegen der Fliegerangriffe hatte ich auch regelmäßig Nachtwache in der Firma in Mainz. Zur Vorbereitung auf die Kaufmannsgehilfenprüfung hatten wir Abendkurse in der Stadt. Wegen der Fliegergefahr konnten wir nach dem Unterricht im Firmengebäude übernachten. So wollte auch der weibliche Lehrling Marianne M. [Anm. 25] kurz vor 17 Uhr sich die Schlafstätte im Lehrlingszimmer zurechtmachen und ließ sich dafür den Schlüssel aushändigen.
Als sie im Zimmer war, öffnete sie das Fenster und sah unten auf der Straße den Mitlehrling Seppel Follert heimgehen und rief ihm zu: „Hallo, Seppel, soll ich mitkommen? Ist man da gleich tot, wenn man da hinunterspringt?“
Seppel antwortete: „Nein, nein, ja, ja, bleib nur droben!“
Aber das Mädchen sprang in die Tiefe und starb drei Stunden danach im Krankenhaus.
Sie hatte einen anderen Lehrling der Firma als Freund, aber neuerdings mit französischen Kriegsgefangenen angebändelt, was dem deutschen Freund Walter S. [Anm. 26] mißfiel. Im Krieg war dies verboten. Von einem Franzosen hatte sie einen Liebesbrief im Geldbeutel, aber beides verloren. So hatte sie Angst vor der Entdeckung und ihrem Freund, der ihr drohte, sie zu verraten.
Als sie mich auf der Treppe traf, fragte sie mich, ob ich an den hl. Antonius, den Helfer bei verlorenen Dingen, glaube. Ich war über die plötzliche Frage so verdutzt, daß ich gar nicht antworten konnte. Bei einer späteren Begegnung sagte ich: „Ja, ich glaube dran…“ Sie bat mich, ich sollte für sie beten, was ich auch getan habe. Vielleicht war es das letzte Gebet für sie vor ihrem Sprung in den Tod …
Zum zweitenmal bin ich nun eingesetzt zum Aufräumen in Frankfurt (Main). Am 12.2.44 war ich mit der SA schon nachts um ¾ 4 Uhr abgerückt, um den Schwergeprüften zu helfen. [Anm. 27] Wir bargen hauptsächlich Möbel aus zerstörten Wohnungen. Dieser Stadtteil wurde hauptsächlich bei hellem Tage heimgesucht. In einer Straße lag fast alle 10 m eine Bombe (Blindgänger). Die oberirdischen Bunker haben sich besonders bewährt. Auf einem sind drei Volltreffer drauf, ohne dass ein Opfer zu beklagen war. Der Bunker fasste 3000 Menschen, die in dem mehrstöckigen Bau Schutz gefunden hatten.
Nach zweijähriger Lehrzeit hatte ich am 13.2.44 Kaufmannsgehilfenprüfung.
Als Höhepunkt unserer Lehrlingszeit fand im März 1944 eine Abschlußprüfung statt, welche ich gut bestand. Daraufhin hielten wir am 15. März eine Abschlußfeier ab, welches sehr zu unserer Zufriedenheit ausfiel. Jeder wurde durch meine Gedichte „durch den Kakao“ gezogen.
Am zweiten Weihnachtstag 1944 beschossen die feindlichen Flieger den Bahnhof [Anm. 28] in Armsheim, wobei auch das Gasthaus „Zum Pfälzer Hof“ ausgebombt wurde. Die Tochter des Hauses, des „Pälserschs Friedel“, mußte mit ihrer alten Mutter im Dorf Zuflucht suchen. Zuerst schliefen sie auf dem Fußboden des Pfarrsälchens neben der katholischen Kirche, dann kamen sie in das evangelische Pfarrhaus, später in die Mühlstraße und dann in die Hauptstraße.
Zum Ende des Krieges waren die Landwirte und Winzer stets in Gefahr wegen der Tiefflieger, die draußen über sie hinwegbrausten. Bauer Heinrich Mauer fuhr mit Kuh und Wagen ins Feld, um Rüben zu holen, als plötzlich Tiefflieger den Bahnhof Armsheim unter Beschuß nahmen. Er flüchtete rasch unter einen Heuhaufen und verdeckte die Kuh mit Heu zur Tarnung. Dabei hatte der Mann seine Last, weil die Kuh lieber das Heu fraß, als sich damit tarnen zu lassen.
In den Weinbergen versteckten sich die Winzer in den Weinbergszeilen unter dem Laub und schrien oft vor Angst.
Durch Fliegerbeschuss fing einmal die Deichsel eines Fuhrwerks meiner Frau Lilli Feuer, welches nur mühsam gelöscht werden konnte.
Stichworte aus der Kriegszeit:
Die Schulklassen sammelten Heilkräuter am Wiesbach, diese wurden im Schulsaal getrocknet.
Auf dem Friedhof wurden Seidenraupen gezüchtet. Dies geschah mit Maulbeerblättern von extra angebauten Sträuchern. Von den Kokons wurde für Fallschirme Seide gewonnen.
Irgendwann im Krieg ging ein losgerissener Fesselballon im Feld nieder, der mit Gas noch etwas gefüllt war. Die Schulbuben rannten sogleich dort hin. Ein Polizist befahl den Jungen, auf den Ballon zu klettern und durch Hüpfen und ihr Gewicht den Ballon vom Gas zu entleeren. Plötzlich gab es eine Stichflamme, dabei wurden einige Kinder verletzt, u. a. Heinrich Schmitt, Karl Schuler, Gunter und Heinz Holla, Willi Schnell.
Ein Junge aus Schimsheim, Werner Weiß, spielte daheim mit einer gefundenen Granate. Sie explodierte und riss ihm drei Finger von der rechten Hand ab.
Nicht explodierte Brandbomben waren gefährlich. Manche Jungen entschärften sie und nahmen die Brandstäbe heraus. Beim Anzünden mit einem Streichholz flogen sie wie eine Rakete unkontrollierbar fort. Ich habe das auch ausprobiert, dabei flog so ein Stab an eine Scheune zwischen Mauer und Dach. Der Brennstab verlöschte gerade noch rechtzeitig, sodaß die Scheune nicht in Flammen aufging.
Um Waffen herzustellen, wurden die größten Glocken geholt, zwei von der evangelischen und eine von der katholischen Kirche. Es wurden auch Gegenstände aus Metall, wie Nippfiguren, Münzen und Altmaterial und Ähnliches, gesammelt.
Die Fenster mussten verdunkelt werden, wegen der nächtlichen Luftangriffe. Feindliche Sender durften nicht gehört werden.
Für die Soldaten in Rußland wurde warme Kleidung für die Winterschlacht gesammelt, aber viel zu spät.
Gefangene Polen und später Franzosen wurden in der Landwirtschaft eingesetzt. Sie übernachteten entweder im Gemeindehaus, Schulgäßchen 1, im ersten Stock bei vergitterten Fenstern und unter Bewachung oder bei den Bauern. Nach Vorschrift durften sie nicht am gemeinsamen Tisch essen, sondern an einem anderen. Wie es einmal bei den Menschen ist, wurde dies nicht so genau genommen. Manche Gefangenen wurden gut behandelt, aber andere auch schlecht und einige auch von Fanatikern geschlagen.
1945
Beim Überfliegen der Nachtbomber verfolgten die Scheinwerfer vom Boden aus die Flugzeuge, damit die Flak (Flugabwehrkanonen) diese erkennen konnte. Die herabfallenden Granatsplitter verursachten Pfeiftöne, die der Bevölkerung Angst einjagten. Viel furchterregender heulten jedoch die abgeworfenen Bomben zur Erde.
Noch 1945 sollte auch der Jahrgang 1930, also die fünfzehnjährigen Buben, sich zum Kriegseinsatz in Alzey melden. Weil aber die Nationalsozialisten Johann Weintz aus Armsheim und Krug aus Bornheim sich rechtsrheinisch abgesetzt hatten, also geflohen waren, liefen mein Bruder Rudi, Helmut Erbes und Heinz Zimlich mit seinem Vater Hans wieder zurück nach Armsheim.
Am 20.3.1945 wurde der schöne gotische Turm der evangelischen Kirche in Armsheim beinahe ein Raub der Flammen, als er durch Fliegerbeschuss anfing zu qualmen. Einigen beherzten Leuten gelang es, das Feuer in großer Höhe zu löschen. Fritz Hofmann, mit nur einem Arm, Hans Feldmann und zwei Mädchen.
Die Bürger erlebten in den Kellern den Einmarsch der Amerikaner am 20.3.1945 und hatten große Angst, was kommen mag.
Die zwei Panzersperren in der Hauptstraße und eine in der Bahnhofstraße, die vorher errichtet worden waren, konnten noch rechtzeitig geräumt werden, um Schlimmeres zu verhüten.
Vor dem Einmarsch der Amerikaner wehte eine weiße Fahne aus dem Dachfenster des großen Kirchturms, die sogar fanatische Bürger zurückholen wollten.
Von den Einmarschierenden wurden einfach Eier und andere Lebensmittel mitgenommen. Die Amerikaner drangen auch ins Schulhaus ein und suchten nach deutschen Soldaten und unerlaubten Dingen. Hier wohnten drei Lehrerfamilien übereinander. Lehrer Jakob Balß war ein evangelischer treuer deutscher Bürger und unterrichtete auch seine Schüler danach. Obwohl er kein Parteigenosse war, stellten die Besatzer die Wohnung auf den Kopf, räumten die Schubladen aus und verängstigten das Ehepaar.
Leider wurden auch Mädchen und Frauen von Amis vergewaltigt. [Anm. 29] Katharina G. hetzte noch die Besatzer auf die Mädchen. Sie selbst hatte dicke Freundschaft mit ihnen. Die Mädchen und jungen Frauen wurden sogar verraten und verbargen sich deshalb vor den fremden Soldaten in Scheunen, Gärten und Kellern. Meine spätere Frau Lilli verbarg sich im Haus und mit ihrem Vater im Weinberg, als Belgier und Marokkaner 1945 Mädchen suchten.
Nachweise
Verfasser: Theodor Eichberger
Bearbeiter: Marc Theodor Amstad
Redaktionelle Bearbeitung: Ute Engelen, Stefan Bremler
Verwendete Literatur:
- Landkreis Alzey-Worms (Hg.): Heimatjahrbuch Alzey-Worms 2017. Alzey 2016.
- Deutsches Historisches Museum, Berlin: Lebendiges Museum Online. www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/besetzung-von-jugoslawien-1941.htm, Abruf: 13.09.2020. Und www.dhm.de/lemo/jahreschronik/1941 (Zeitstrahl), Abruf: 13.09.2020.
- Eichberger, Theodor: Tagebuchaufzeichnungen.
- Eichberger, Theodor: Von Aribosheim über Armsheim bis Armsem. Mosaik eines rheinhessischen Dorfes, Wörrstadt 1991.
- Leiwig, Heinz: Flieger über Rheinhessen. Der Luftkrieg 1939 bis 1945, Alzey 2002.
- Lottermann, Bruno Paul: damals und danach. Geschichten um Alzey und Alzey herum, Offenbach 2018.
- Mahlerwein, Gunter: Rheinhessen 1816– 2016. Mainz 2015.
- Weisel, Ludwig: Wallertheimer Heimatzeitung Nr. 5/1926, Wallertheim 1926.
Aktualisiert: 31.08.2021
Anmerkungen:
- Ein unverständlicher/unleserlicher Satz wurde weggelassen. Zurück
- Vgl. Heimatjahrbuch (2017), S. 117 (Artikel: Juden in Eichloch. Ludwig Bronne aus Armsheim wird hier als Viehhändler bezeichnet.). Zurück
- Nur die Initialen waren vermerkt. Zurück
- Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 293 (Stichwort: Judenboykott). Zurück
- Leichenwagen mit Pferden. Zurück
- Attrappe eines stehenden Sarges, aufgestellt zur Totenmesse in der Kirche. Zurück
- LZ 130 „Graf Zeppelin II“ war ein Schwesterschiff der LZ 129 „Hindenburg“ und das letzte große Starrluftschiff. Es besaß eine Länge von 245 m und einen Durchmesser von 41,2 m. Zurück
- Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 310 (Mahlerwein gibt Bombardierungen ab Juni 1940 an.). Zurück
- Vgl. Leiwig, H. (2002), S.17ff. (Stichworte: Bombenangriffe in Rheinhessen im Jahr 1940, S. 19, Sprengbomben in der Gemarkung Bingen-Kempten am 15.09.1940, sowie auf S. 21 ein Verweis auf Angriffe auf die Rheinschifffahrt der Royal Air Force (RAF) der engl. Luftwaffe mit mehrfachen nächtlichen Mineneinsätzen im Jahr 1940.). Zurück
- Diese beiden Sätze waren durchgestrichen. Zurück
- Ein durchgestrichener und unverständlicher/unleserlicher Satz wurde weggelassen. Zurück
- Vgl. www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/besetzung-von-jugoslawien-1941.htm (Abruf 13.09.2020). Zurück
- Vgl. www.dhm.de/lemo/jahreschronik/1941 (Zeitstrahl) (Abruf 13.09.2020). Zurück
- Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 310 (Stichwort: Überfall der Sowjetunion). Zurück
- Der Rest des Satzes war unleserlich und durchgestrichen. Zurück
- Dieser Satz war durchgestrichen. Zurück
- Friedrichstraße, Lonsheim. Zurück
- Der Satz war durchgestrichen. Zurück
- Mundartlich: geärgert, geneckt. Zurück
- Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 310 (Stichwort: Bombardierung von Mainz im August 1942). Zurück
- Vgl. Leiwig, H. (2002), S. 35ff. (Stichwort: Augustangriffe auf Mainz 1942). Zurück
- Dieser Satz war gestrichen. Zurück
- Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 310 (Stichwort: Bombardierung von industriellen Ballungszentren außerhalb Rheinhessens). Zurück
- Es handelt sich wahrscheinlich um einen Arbeitseinsatz nach dem großen und schweren Luftangriff auf Frankfurt am 04.10.1943 durch britische und amerikanische Bomber. Die Brände konnten erst nach Tagen gelöscht werden. Zurück
- Name bekannt. Zurück
- Name bekannt. Zurück
- Es handelt sich wahrscheinlich um einen Arbeitseinsatz, nach dem Angriff der US-Luftwaffe vom 11.02.1944 auf Frankfurt-Heddernheim. Zurück
- Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 311 (Stichwort: Bombardierung Bahnhof Armsheim). Zurück
- Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 319, Anmerkung: Vergewaltigungen kamen vor, wurden aber manchmal auch erfunden. Zurück