0.10. Sprachlaute und Tonakzente
0.1.10.2. Vokale
0.2.10.2.13. Historische Varianten I
Wenn ein Wort von Dialekt zu Dialekt eine andere Lautstruktur aufweist, dann hängt das meistens damit zusammen, dass die sprachhistorische Ausgangsform des Wortes sich in den Dialekten unterschiedlich entwickelt hat. Das Wort Nase beispielsweise hat im Hunsrück folgende Varianten: Naas, Nòòs, Noos und Nœœs (vgl. Karte 14). Alle diese divergierenden Einheiten haben sich aus dem einen zugrundeliegenden historischen Element althochdeutsch nasa ergeben. Es gibt aber zwischen Dialektausdrücken auch Lautdifferenzen, die nicht durch unterschiedliche Entwicklungen ein und derselben historischen Ausgangsform bedingt sind.
stehn/stohn und gehn/gohn
Das Verb stehen lautet z. B. in Talling (Verbandsgemeinde Thalfang) stohn, in Sohren (Verbandsgemeinde Kirchberg) jedoch stehn. Beide Ausdrücke haben sich nicht aus einer gemeinsamen historischen Grundlage auseinanderentwickelt, sondern sie setzen zwei verschiedene historische Varianten fort. Bereits im Althochdeutschen gibt es die Formen stān und stēn für ‘stehen’. Dialektales stohn geht auf althochdeutsch stān und dialektales stehn auf althochdeutsch stēn zurück. Einen Parallelfall bilden althochdeutsch gān und gēn ‘gehen’, die sich im Platt zu gohn bzw. gehn entwickeln.
Die meisten Hunsrücker Dialekte haben für die Verben stehen und gehen die Formen stehn und gehn, also althochdeutsch stēn bzw. gēn als Grundlage. Vor allem im Norden und Nordwesten erfolgt Hebung (vgl. Kap. 10.2.6.) zu stihn bzw. gihn. Der südwestliche Teil der Region hingegen weist stohn/ stòhn und gohn/gòhn auf (ò bezeichnet den offenen o-Laut), hat also althochdeutsch stān/gān als Grundlage. Die Dialektvarianten bilden den Ausläufer eines entsprechenden Gebietes, das, von Norddeutschland kommend, westlich des Rheins bis zur Mosel reicht und im Trierer Raum diese nach Süden hin überschreitet. Die Karte 23 dokumentiert die räumliche Verteilung der Ausdrücke für ‘stehen’ und ‘gehen’ im Hunsrück.
Das Althochdeutsche und das nachfolgende Mittelhochdeutsch wiesen einerseits Dialektgebiete mit den Ausdrücken stēn/gēn und andererseits solche mit stān/gān auf. Ursprünglich waren im gesamten Hunsrück stān und gān verbreitet. Bereits im Mittelalter expandierten von Osten her stēn und gēn und drängten sukzessiv die Formen mit ā zurück. Heute sind nur noch im westlichen Hunsrück die auf stān und gān zurückgehenden Einheiten stohn/stòhn und gohn/gòhn fassbar. Bei dieser Entwicklung spielt eine Rolle, dass die Schriftsprache stehen und gehen, also Formen mit e hat. (Vgl. auch Kap. 10.3.12.)