0.10. Sprachlaute und Tonakzente
0.1.10.2. Vokale
0.2.10.2.10. Dehnung
Fruucht, Naacht, Driichter
In den Hunsrücker Dialekten gibt es unzählige Wörter, die einen gedehnten Stammvokal im Gegensatz zum Standarddeutschen aufweisen. Die Dehnungsfälle lassen sich anscheinend keiner durchgehenden Systematik unterordnen. Unbestreitbar ist aber, dass bestimmte Lautumgebungen die Längung begünstigen, so etwa ein nachfolgendes cht, vgl. Gnäächt ‘Knecht’, Fruucht (= Frucht) ‘Getreide’, Naacht ‘Nacht’, Driichter ‘Trichter’ usw. Langen Stammvokal haben u. a. auch: Schliire ‘Schlitten’, drääschen ‘dreschen’, Bliirer ‘Blätter’ sowie Looch ‘Loch’. Aufgeführt sind hier nur die sehr häufig vertretenen Lautformen; jedes der Beispielwörter hat mehrere sprachlandschaftliche Varianten, z. B. Schliide, Dreechter, Bleeder usw. Es ist nicht jeweils der gesamte Hunsrück von Dehnung betroffen. Lang- und Kurzvokale verteilen sich im Raum von Wort zu Wort unterschiedlich. Die Karte 19 demonstriert den Wechsel von kurzem und langem Stammvokal exemplarisch anhand von Trichter.
Fast regelmäßig wird ein kurzer Vokal gelängt, wenn ein ihm folgendes r zu lautlich reduziertem a (= a) vokalisiert oder sogar ausgefallen ist, vgl. z. B. Keeasch, Kiisch, ‘Kirsche’, Dooascht, Duuscht, ‘Durst’. Aber auch bei r‑Erhalt tritt häufig Dehnung ein (ebenfalls bei wortspezifischer arealer Variation), vgl. etwa Beerch ‘Berg’ um Simmern.
Einen Spezialfall der Dehnung stellt die Ersatzdehnung dar. Hierbei erfolgt eine Längung des kurzen Vokals, wenn der ihm folgende Konsonant ausfällt (Dehnung gewissermaßen als „Ersatz“ für Ausfall). Betroffen sind im Hunsrück die Konsonanten ch und n, wenn s folgt. So stehen sich z. B. (auch hier wieder mit unterschiedlicher Verteilung im Raum) waaßen und wachsen, Oos und Ochs, Fiister und Fins(ch)ter ‘Fenster’ sowie uus und uns gegenüber. Vgl. hierzu ausführlicher die Kap. 10.3.8. und 10.3.9. mit den dazugehörigen Karten 32 und 33.