Hunsrück

0.11. Formenlehre

0.1.11.2. Verb

0.2.11.2.5. Partizip Perfekt

Das Partizip Perfekt eines einfachen Verbs setzt sich aus drei Elementen zu­sammen: 1. dem Präfix ge-, 2. dem Wortstamm und 3. dem Suffix. Das Suf­fix ist bei den starken (unregelmäßigen) Verben ‑en, z. B. ge-trag-en, ge‑schwomm‑en, ge‑troff‑en, bei den schwachen (regelmäßigen) Verben ‑t oder, wenn der Stamm auf d oder t endet, ‑et, z. B. ge-kauf-t, gekleidet, ge‑leit‑et. Die Bildungsweise gilt im Prinzip auch für das Hunsrücker Platt, doch gibt es Abweichungen, mit denen die Dialekte teilweise mittelhochdeutsche Sprach­zustände tradieren.

0.3.11.2.5.1. Tilgung des Präfixes

kannt, kräit

In den Dialekten unseres Gebietes kann das Präfix ge- vor Stämmen, die mit k oder g beginnen, wegfallen. Horath (Verbandsgemeinde Thalfang) beispielsweise hat kannt ‘gekannt’, kräit ‘gekriegt’, gang ‘gegangen’ usw. Die räumliche Er­streckung der Präfixtilgung variiert. Bei gekannt etwa bleibt die Vorsilbe im rheinfränkischen Teil des Hunsrücks sowie entlang dem Rhein bis Koblenz erhalten. Bei gekauft fällt sie generell weg.

Darüber hinaus gibt es einige weitere Verben, bei denen das Präfix beim Partizip Perfekt fehlen kann. Es sind dies u. a. finden, treffen und bringen. Die Formen lauten z. B. fonn ‘gefunden’ in Beuren (Verbandsgemeinde Hermes­keil), droff ‘getroffen’ in Wüschheim (Verbandsgemeinde Simmern) sowie braacht ‘ge­bracht’ in Raversbeuren (Verbandsgemeinde Kirchberg). Auch bei diesen Verben gibt es wortspezifische Unterschiede bei der arealen Verteilung der Tilgung von ge‑. Die Verbreitung des Wegfalls von ge‑ bei getroffen demonstriert Kar­te 42.


geschwomm, geholl

Bei einigen (überwiegend starken) Verben weist das Partizip Perfekt kein Suffix auf. Dazu zählen geschwommen, gelaufen, getroffen, geholt u. a. Für den bereits oben angeführten Ort Horath lauten die Formen: geschwomm, gelòòf, getroff, geholl. Von dem en‑Abfall ist gewöhnlich unser ganzes Ge­biet betroffen, in einigen Fällen bleibt aber die Untermoselregion ausge­spart, dort sagt man z. B. geschwumme. Die Karte 42 belegt für getroffen den Abfall der Endung im gesamten Untersuchungsareal. (Vgl. auch Kap. 11.2.5.4.)

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0.1.11.2.5.3. Tilgung von Präfix und Suffix

komm, gang

Die Beispiele gang ‘gegangen’, fonn ‘gefunden’ sowie droff ‘getroffen’ in Abschnitt 11.2.5.1. haben es bereits vorweggenommen: Im Hunsrück kön­nen – auch wiederum nur bei einigen Partizip-Perfekt-Vorkommen – zu­gleich Präfix und Suffix wegfallen. Als weitere Beispiele lassen sich auffüh­ren: komm ‘gekommen’ (z. B: sie is komm ‘sie ist gekommen’) sowie gääs ‘gegessen’ (mit verschiedenen lautlichen Ausprägungen des Stammvokals).

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0.2.11.2.5.4. Wechsel der Flexionsklasse: starkes/schwaches Partizip Perfekt

geback/gebackt

Was die Endung des starken Partizip Perfekts gebacken betrifft, zeigen die Hunsrücker Dialekte zwei verschiedene Ausprägungen. Den größten Teil unseres Raums nehmen, wie Karte 43 vor Augen führt, endungslose Formen ein, das sind: geback, gebaak und gebaach. In diesen Fällen ist das „starke“ Suffix ‑en abgefallen – vgl. dazu Kap. 11.2.5.2. An der unteren Saar sowie in einem breiten Streifen zwischen Wadern und Kirn (mit Fortsetzung nach Süden bis in die Nordwestpfalz und ins Saarland) ist jedoch schwaches Par­tizip mit der Endung ‑t belegt, und zwar gebaakt bzw. gebackt. Das Verb backen hat hier also die Flexionsklasse gewechselt und sich den schwachen Verben angeschlossen. (Das Präteritum gibt es im Hunsrücker Platt nur teil­weise.)

Analoges lässt sich zum Partizip Perfekt von lesen konstatieren. Der Großteil unserer Dialekte hat geles, gelese oder gelesen, flektiert also regu­lär stark oder hat kein Suffix. Auch in diesem Fall wieder an der unteren Saar und in der Nahegegend, nun allerdings zwischen Wadern und Birken­feld ist schwaches gelest verbreitet.


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0.1.11.2.5.5. Wechsel der Flexionsklasse: schwaches/starkes Partizip Perfekt

gebracht/gebrung

Ein schwaches Verb zeichnet sich dadurch aus, dass es das Präteritum und Partizip Perfekt mit einem t‑Suffix bildet; der Vokal bleibt in den drei Stammformen unverändert, z. B. lacheenlachtegelacht. Dagegen haben starke Verben kein t‑Suffix, und der Wurzelvokal wechselt in den drei Stammformen, vgl. z. B. schwimmenschwammgeschwommen.

Das Verb bringen ist ein unregelmäßiges schwaches Verb. Die Stamm­formen sind: bringenbracht‑egebracht. Unregelmäßig ist es des­halb, weil hier anders als bei den regulären schwachen Verben der Wurzel­vokal alterniert.

In weiten Teilen der Pfalz und Rheinhessens wird bringen stark flek­tiert. Das Partizip Perfekt lau­tet gebrung und folgt demnach dem Muster von singen, springen usw. mit den Dialektformen singegesung, springegesprung (das Präteritum ist nicht üblich). Die starke Flexion bei bringen reicht bis in den rheinfränkischen Bereich Hunsrücks hinein. Die übrigen Dialekte unseres Gebietes flektieren das Wort schwach, wobei das Präfix ge- – außer in einem Streifen entlang dem Rhein – getilgt ist (vgl. auch Kap. 11.2.5.1.). Belegt sind z. B. braacht, brooscht usw., im Westen brœœt (mit zentralisiertem ö‑Laut und ch-Ausfall, vgl. Kap. 10.2.9. und 10.3.7.).

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0.2.11.2.5.6. Rückumlaut

gehort, bestallt

In den meisten Hunsrücker Dialekten lautet das Partizip Perfekt von hören, wie Karte 44 ausweist, gehort (mit Hebung des Stammvokals – vgl. Kap. 10.2.6. – auch: gehurt). In der Standardsprache jedoch heißt es gehört. Es stehen sich also auf der einen Seite eine Form ohne Umlaut (o) und auf der anderen eine mit Umlaut (ö) gegenüber. Um das umlautlose gehort des Dia­lekts zu erklären, ist ein Exkurs in die Sprachgeschichte notwendig. Die fol­gende Tabelle führt vergleichend den Infinitiv, das Präteritum und das Partizip Perfekt des Verbs hören für das Althochdeutsche, Mittelhochdeutsche und Neuhochdeutsche (Stan­dardsprache) auf.


AlthochdeutschMittelhochdeutschNeuhochdeutsch (Standard)
Infinitivhōrenhȫrenhören
Präteritum(ich) hōrta(ich) hōrte(ich) hörte
Partizip Perfektgihōritgehōrtgehört

Der Vergleich der althochdeutschen und mittelhochdeutschen Ausdrücke im Hinblick auf den Stammvo­kal zeigt, dass beim Infinitiv ein Lautwandel stattgefunden hat. Althochdeutsch hōren (ohne Umlaut) entspricht im Mittelhochdeutschen hȫren (mit Umlaut). Bei den anderen Verbformen hat sich der Stammvokal nicht verändert. Wie in Kap. 10.2.7. ausgeführt, ist der Umlaut nur unter der Bedingung eingetreten, dass in der Folgesilbe i, ī oder j vorkam. Im Falle von hören lag der den Umlaut bedin­gende Faktor in der voralthochdeutschen Form nur im Infi­nitiv vor, jedoch nicht im Prä­teritum und Partizip Perfekt. Aus diesem Grund heißt es im Mittelhochdeutschen zwar hȫren, aber hōrte, gehōrt. In der neuhochdeutschen Standardsprache ist die lautliche Dif­ferenz durch Ausgleich nach ö beseitigt. Alle drei Formen weisen – wie die Tabelle oben veranschaulicht – den gleichen Stammvokal ö auf.

Die meisten Dialekte unseres Gebietes bewahren den Zustand des Mittelhochdeutschen, also Umlaut (mit Entrundung von ö zu e, vgl. Kap. 10.2.4.) im Infini­tiv, aber kein Umlaut, vom Sprachwissenschaftler Rückumlaut genannt, im Partizip Perfekt. Sie haben also etwa: heregehort. (Das Präteritum ist in den Hunsrücker Dialekten nur teilweise gebräuchlich.) Lediglich der Nor­den und Süden des östlichen Bereichs zeigt eine formale Übereinstimmung mit der Standardsprache, die Umlaut sowohl im Infinitiv als auch im Parti­zip Perfekt (und Präteritum) aufweist. Die beiden Areale mit Umlautformen im Partizip Perfekt sind sprachhistorisch unterschiedlich zu beurteilen. In der Koblenzer Gegend scheint in erster Linie stadtsprachlicher Einfluss auf das Umland für die Beseitigung des Rückumlauts verantwortlich zu sein. Das Gebiet im Rhein-Nahe-Dreieck hingegen gehört zu einem von Süden und Osten hineinragenden Großareal, in dem der Rückumlaut schon früh aufge­hoben wurde.

Rückumlaut im Hunsrücker Platt liegt auch bei anderen Verben vor, wobei dessen räumliche Ver­teilung von Wort zu Wort differiert. Als weite­res Beispiel sei genannt: bestellen (Infinitiv) mit den Partizip-Perfekt-Varianten bestallt (Rückumlaut) und bestellt (kein Rückumlaut), vgl. Kar­te 45.


In der neuhochdeutschen Standardsprache ist der Rückumlaut nicht durchgängig be­seitigt. Die Verben mit ‑nn- und ‑nd- weisen ihn (noch) auf, z. B. rennenranntegerannt, sendensandtegesandt. Doch bei den Wörtern mit ‑nd- gibt es bereits Doppelformen, vgl. die Präteritalformen: sandte und sendete.

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