Die Auswanderung der Familie Littig nach Brasilien
Protokoll einer Archiv-Recherche
„In der Anlage befindet sich ein Schreiben eines Herrn Balmes“, stand in der e-mail des Ortsbürgermeisters von Frei-Laubersheim, „vielleicht findet sich dazu etwas in unserem Archiv.“ „Meine Frau und ich“, hieß es in dem beigefügten Schreiben von Herrn Balmes, „waren im Januar im Bundesstaat Espirito Santo in Brasilien, in der Stadt Domingos Martins, die von Deutschen aus dem Hunsrück und aus Pommern gegründet wurde. Bei unserem ersten Abendessen in einer Pizzeria fragten wir den Ober, da wir nicht portugiesisch sprechen, ob er englisch verstehe. Da gab uns der Ober folgende Antwort: ´Nao englisch konn ich net ewwer e bissel Hunsrick deitsch, kao Hauchdeitsch`. Da waren wir doch etwas verblüfft, und so kamen wir ins Gespräch. Nachdem wir dann bei jedem Essen unseren Freund besuchten, hat er uns eingeladen in sein bescheidenes Haus zu kommen. Sein Name ist Lair Littig und er wohnt etwa 35 km von Domingos Martins entfernt in Richtung Bello Horizonte in den Bergen inmitten von Urwald und Kaffeeplantagen. Er und seine zehn Geschwister sind alle sehr an Deutschland interessiert und alle sprechen noch recht gut deutsch (platt). Wörter, die es damals noch nicht gab, sind ihnen auch nicht geläufig. Alle haben nur durch Überlieferung ihr deutsch weitergegeben. Er hat Unterlagen, die besagen, dass seine Vorfahren nach 1850 aus Frei-Laubersheim ausgewandert sind. Ich habe der Familie versprochen, dass ich mich erkundigen werde, ob es eventuell noch Unterlagen der Auswanderer in Frei-Laubersheim gibt.“
Als Betreuer des Ortsarchivs hatte ich in den alten Zinsbüchern viele Familiennamen gesehen, die heute im Ort nicht mehr vorkommen. Aber Littig, mit diesem Namen konnte ich nichts anfangen. Also fuhr ich ins Ortsarchiv, dem Langzeitgedächtnis unserer Ortsgemeinde. In den letzten Jahren haben solche Anfragen nach Dokumenten stark zugenommen. Kürzlich wollte z.B. eine Familie aus Brandenburg etwas über ihren Frei-Laubersheimer Vorfahren wissen. Dieser war 1774 dem Ruf Friedrichs des Großen gefolgt und hatte dort von Seiner Majestät als „Colonist“ eine „Hopfengärtnerstelle von 14 Morgen auf Erbzins“ erhalten. Nach den Akten des Ortsarchivs besaß die Frei-Laubersheimer Familie dieses Auswanderers eine Vielzahl von Äckern und Weinbergen. Sie war demnach keineswegs arm, aber wohl kinderreich. Wer Weinbau betreiben kann, wird sich der Auswanderer gedacht haben, kann auch Hopfen anbauen und verließ seine Heimat, um sich im Brandenburgischen eine neue Existenz aufzubauen. Seine Nachfahren leben heute noch fast genau an der Stelle, wo der Colonist aus Frei-Laubersheim sein neues Leben vor fast 250 Jahren begonnen hatte.
Im Archiv angekommen nahm ich mir den Ordner „Acten der Bürgermeisterei Frei-Laubersheim, Abteilung XI Bevölkerungsverhältnisse“ aus dem Regal. Diese Akten bestehen aus einer Vielzahl von losen, gedruckten oder mit der Hand beschriebenen Blättern, die in eine buchförmige Mappe eingelegt sind. Die Dokumente stammen fast ausschließlich aus dem 19. Jahrhundert. Wenn die „Littigs“ hier gelebt hatten, musste es in diesen Akten stehen.
Die ersten Seiten, die ich aus dem dunkelbraunen Ordner herausnahm, enthielten verschiedene, gedruckte Schreiben der Großherzoglichen Regierung an alle Bürgermeister der Provinz Rheinhessen. Die Bürgermeister wurden darin angewiesen, die Untertanen auf die Gefahren der Auswanderung hinzuweisen und im Besonderen sollten sie die Bürger belehren, dass sie nicht auf betrügerische Werber und falsche Versprechungen hereinfielen. „Ein vorzügliches Verführungsmittel“ schrieb Freiherr v. Lichtenberg im März 1825 an die Bürgermeister der Provinz Rheinhessen, „sind die Briefe, welche ausgestreut werden und welche von früheren Ausgewanderten geschrieben sein sollen. Allein diese Briefe sind keineswegs in Brasilien geschrieben, sondern von schändlichen Betrügern in Deutschland, in unserer Nähe, in der Gegend von Frankfurt, geschmiedet worden.“ Die Bürgermeister wurden weiterhin in einem Schreiben vom Januar 1826 angehalten, den Auswanderungswilligen deutlich zu machen, dass eine Rückkehr in die Heimat ausgeschlossen sei. „Nach dem Gesetze über die Auswanderungen ist jedem Inländer erlaubt, in andere Länder zu ziehen, wenn seine Verbindlichkeiten gegen den Staat und gegen Private erfüllt sind. Da jedoch, nach höchster Entscheidung, die Ausgewanderten keine Hoffnung haben dürfen, je in ihrem Vaterlande wieder an- und aufgenommen zu werden, und daher im wohlverstandenen Interesse der Untertanen, eine ausdrückliche Erklärung von unserer Seite nötig ist“. Besonders erwähnt wurde mehrmals der brasilianische Major Schaeffer, der mit falschen Versprechungen Auswanderungswillige nach Brasilien lockte und dabei nur das Ziel verfolgte, „recht viel Soldaten für den brasilischen Dienst zu gewinnen“.
Auf den folgenden Blättern bestätigte der großherzoglich hessische Kreisrat des Kreises Bingen verschiedenen Frei-Laubersheimer Bürgern die Auswanderung z.B. dem Ernst Georg Becker, der für sich und seine 6 unmündigen Kinder die Auswanderung in das Königreich Polen beantragt hatte.
Aber von den Littigs immer noch kein Dokument. Das nächste Blatt vom 13. März 1840 war handgeschrieben. Es handelte sich um eine Stellungnahme des Bürgermeisters zum Auswanderungsgesuch von vier Ortsbürgern, und darunter waren auch tatsächlich Carl und Philipp Littig. Aber der Inhalt des Gesuchs überraschte mich: Carl Barch, Philipp Littig, Jacob Littig und Peter Surerus, Ortsbürger zu Frei-Laubersheim ersuchten nach Neuseeland auswandern zu dürfen. Nach den Angaben des Bürgermeisters waren alle vier Familien in ihren Vermögensverhältnissen gleich, keine Familie „besitzt weder eine eigene Wohnung noch sonst etwas, Sie haben jede 5 Kinder und die eine Familie nur ein Kind.“ „Nach meinem Wissen“, schrieb der Bürgermeister weiter, „befindet sich in der Gemeinde Frei-Laubersheim wohl niemand, der den Littigssellern nicht alles Glück und volles Gelingen ihres Vorhabens wünschen wird.“ Das nächste Blatt aus dem Jahre1845 dokumentierte jedoch, dass die Auswanderung der Littigs nach Neuseeland nicht stattgefunden haben konnte. In seiner Antwort auf einen Fragenkatalog des Kreisrates in Bingen berichtete der Frei-Laubersheimer Bürgermeister, dass im laufenden Jahre 1845 die Familien Surerus mit 7 Köpfen, Maul mit 6, Reith ebenfalls mit 6 und Philipp Littig mit 10 Köpfen nach Brasilien ausgewandert sind. Wer sich hinter diesen „Köpfen“ konkret verbarg, ist leider nicht nicht erwähnt. „Es steht zu vermuten“, erklärte der Bürgermeister, „dass dieselben ihr Vaterland für immer verlassen haben. Die Familie Littig“, ergänzte er, „war ganz arm, lebte meistens von Unterstützungen und ist durch die Beiträge von den Einwohnern hiesiger Gemeinde instandgesetzt worden, auszuwandern und so die Gemeinde einer ihr zur Last liegenden zahlreichen Familie entledigt worden“. Das klang recht schroff, er fügte aber auch den Wunsch hinzu, „dass sie [die Littigs] in der neuen Heimat von uneigennützigen Beaufsichtigern so mit Rat und Tat unterstützt würden und nicht in betrügerische Hände fielen“. Die Suche schien damit erfolgreich abgeschlossen zu sein.
Um sicher zu gehen, dass es sich tatsächlich um den Gesuchten handelte, schaute ich mir auch noch die folgenden Dokumente an. Im Ortsregister wurden für das Jahr 1859, also 14 Jahre nach der Auswanderung des Philipp Littig, neben der Maria Philipina Mathes, die nach Kreuznach auswanderte(!), nochmals 10 Littigs genannt und im einzelnen aufgeführt, die ebenfalls nach Südamerika auswanderten: Jacob Littig, 52 Jahre alt und seine Frau Anna Maria geb. Broch, 53 Jahre alt. Weiterhin Frederike (31), Philipp (28), Karl (26), Christina (23), Johann (21), Martin (17), Katharina (14) und Karl, ein Enkel des Jacob Littig, mit 5 Jahren der Jüngste der Auswanderer. Als Berufe der Littigs wurden, bis auf den Johann, der Schneider war, und Martin, der als Handarbeiter bezeichnet wurde, „Taglöhner“ angegeben. Tatsächlich fand ich hierzu zwei Eintragungen im Einnahmen- und Ausgabenbuch der Gemeinde: „1844: ... an Jacob Littig für Steineklopfen im Bamberger Weg 5 fl 17 Kr [gezahlt]“ und im selben Jahr „ an Jacob Littig für Grabenmachen 2 fl. 25 Kr.“ Und noch im Januar 1859, also wenige Monate vor seiner Auswanderung nach Brasilien: „Für Lieferung von kleingeschlagenen Steinen auf den Vizinalweg 15 fl.“ Bürgermeister Wehr vermerkte: „Wanderten mittels Unterstützung der Gemeinde aus.“ Nach dieser Eintragung ist der Name Littig in den Dokumenten des Archivs nicht mehr nachweisbar. Offensichtlich hatten mit diesem zweiten Auswanderungszug alle Littigs Frei-Laubersheim verlassen.
Der 28jährige Philipp Littig, Sohn des Jacob Littig, der mit dem zweiten Auswanderungszug Frei-Laubersheim verlassen hatte, musste demnach der gesuchte Vorfahre sein. Sein Verwandter und Namensvetter, der bereits 1845 ausgewandert war, passte zeitlich nicht zu den von Lair Littig gemachten Vorgaben.
Geblieben ist den Littigs in Brasilien eine „Quetsch-Kommode“ (Bandoneon) aus der Auswanderungszeit. Das Instrument ist wurmstichig und funktioniert nicht mehr, wird jedoch sehr in Ehren gehalten und gehörte der Familie vielleicht schon in Frei-Laubersheim, dem Ort, aus dem der Vorfahre des Lair Littig, der Philipp Littig mit seinen Verwandten vor über 150 Jahren ausgewandert ist.