Hunsrück

0.10. Sprachlaute und Tonakzente

0.1.10.3. Konsonanten

0.2.10.3.2. Spirantisierung

Spirantisierung liegt vor, wenn aus einem Verschlusslaut eine Spirans (Rei­belaut) wird, also z. B. aus g ein ch, vgl. etwa standarddeutsch Kugel mit dialektal Kuuchel. Bei dem Übergang ändert sich die Artikulationsart (Ver­schlusslösung versus Erzeugung eines Reibegeräuschs), die Artikulations­stelle bleibt (annähernd) die gleiche. Für g und ch ist dies der Gaumen. Bei der Beschreibung der Hunsrücker Dialekte sind die Spirantisierungen von b, d und g von besonderem Interesse.

0.3.10.3.2.1. Entwicklung von b zu w und Fortsetzung einer alten Spirans

glääwe, sterwe, Kalf

Wenn in unserem Dialektgebiet standardsprachliches b als w erscheint (vgl. z. B. Kälwer ‘Kälber’), dann handelt es sich nicht bei allen Vorkommen um Spirantisierung. Die sprachgeographischen Ver­hältnisse stellen sich folgen­dermaßen dar: Nordwestlich einer Linie ungefähr Nahequelle – Boppard ist w statt b im Wortinlaut zwischen Vokalen sowie nach r und l vertreten, vgl. etwa glääwe ‘glauben’, uwe ‘oben’, sterwe ‘sterben’ und Kälwer ‘Kälber’. Vor stimmlosem Konsonant ist w zu f verhärtet, vgl. z. B. (dou) glääfs ‘(du) glaubst’, (er) stireft ‘(er) stirbt’. Am Wortende tritt ebenfalls Verhärtung ein, z. B. Korf ‘Korb’, Kalf ‘Kalb’. Diese Entwicklung erfolgt auch, wenn durch Abfall von ‑e oder einer Endung w an das Wortende „rutscht“, vgl. z. B. Kerf ‘Körbe’ und gestorf ‘gestorben’. Zusam­menfassend lässt sich konstatieren: Nordwestlich einer Linie etwa Nahequelle – Boppard tritt im In- und Auslaut statt b die Spirans w/f auf. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um einen Spirantisie­rungsvorgang, bei dem b zu w wird. Das Mittel­fränkische setzt vielmehr einen alten (germanischen) Reibelaut fort, den Sprachhis­toriker mit ƀ bezeichnen. Dieser an den Lippen gebildete Reibelaut ƀ ist in den anderen mittel- und oberdeutschen Dialekten (und in der Standardspra­che) zu dem Verschlusslaut b geworden. Dieses b ist in großen Teilen des Deutschen, einschließlich des Rheinfränkischen, sekundär zu einem w spi­rantisiert worden, so auch im Hunsrück südöstlich der oben genannten Li­nie. Die Entwicklung ist in diesem Fall allerdings nur im Inlaut zwischen Vokalen und im Inlaut nach r/l, jedoch nicht im Auslaut eingetreten. So heißt es zwar z. B. glääwe ‘glauben’, sterwe ‘sterben’ und Kälwer ‘Kälber’, aber (dou) glääbs ‘(du) glaubst’, (er) sterbt ‘(er) stirbt’ und Kalb.

Die beiden w – das „alte“ im Mittelfränkischen und das „junge“ im Rheinfränkischen unterscheiden sich in der Aussprache (zumindest war das früher der Fall): Das den germanischen Reibelaut ƀ fortsetzende w ist labiodental, das heißt es wird mit der Unterlippe an den oberen Schneidezähnen artikuliert und somit wie in standarddeutsch wenn gesprochen (phonetisches Zeichen: [v]). Das sekundär aus b entstandene w hingegen wird von den Dialektspre­chern bilabial gebildet, das heißt mit der Unterlippe an der Oberlippe. Es ist dem englischen w in water ähnlich (phonetisches Zeichen: [β]). Dieser Laut re­sultiert aus der flüchtigen Artikulation des b, bei der das eigentliche Artiku­lationsziel nicht erreicht wird. Ober- und Unterlippe kommen zusammen, bilden aber keinen festen Verschluss, sondern lediglich eine Enge, so dass ein w-ähnliches Reibegeräusch entsteht. Die Karte 26 lieb dokumentiert mit dem Beleg lief, der stellvertretend auch für Kalf, Kerf usw. steht, die Ver­breitung der alten mittelfränkischen Spirans im Gebiet des Hunsrücks.


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0.1.10.3.2.2. Entwicklung von g zu sch/ch am Wortende

Huunisch, Daach, Bersch

In allen Hunsrücker Dialekten wird g am Wortende nach hellem Vokal (i, e, ä) oder Konsonant (mit Ausnahme von n, s. u.) sch gesprochen. Die Wörter Honig, Teig und Berg lauten z. B. Huunisch, Dääsch und Bersch. Nach dunklem Vokal (u, o, a) tritt ch auf. Für Tag und genug steht Daach bzw. genuuch. Zu g nach n (‑ng) am Wortende vgl. Kap. 10.3.3.

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0.2.10.3.2.3. Entwicklung von g in der Wortmitte

Für die Entwicklung von g zwischen Vokalen gibt es folgende Regularitä­ten: Nach hellem Vokal erfolgt Spirantisierung zu j, selten zu sch (was eine neuere Tendenz zu sein scheint) vgl. flieje ‘fliegen’, Iijel/Iischel ‘Igel’, Spiejel/Spieschel ‘Spiegel’ usw. Nach dunklem Vokal erscheint ch, vgl. et­wa Kuuchel ‘Kugel’, Voochel ‘Vogel’ und Maache ‘Magen’. Wenn ein zwi­schenvokalisches g durch Abfall von ‑e an das Ende eines Wortes gelangt, entwickelt es sich nach hellem Vokal zu sch und nach dunklem Vokal zu ch, vgl. z. B. Bliisch ‘Pflüge’ und Wòòch ‘Waage’. Die hier beschriebenen Spi­rantisierungen treten nicht generell ein. Alle genannten Beispielwörter kom­men im Hunsrück auch mit g‑Ausfall vor, also z. B. Iil ‘Igel’, Vool ‘Vogel’, Blii ‘Pflüge’ und Wòò ‘Waage’. Die räumliche Vertei­lung von g‑Spirantisie­rung und g‑Schwund ist von Wort zu Wort unterschiedlich. Aber im süd­westlichen Bereich unseres Gebietes kommt g‑Ausfall seltener vor. Es gibt auch eine ganze Reihe von Wörtern, die durchgehend g‑Tilgung und keinen einzigen Spirantisierungsfall aufweisen. Hierzu zählen beispielsweise Rään ‘Regen’, Naal ‘Nagel’ und sòòn ‘sagen’. Karte 27 zeigt exemplarisch für Pflüge die areale Verteilung von g-Spirantisierung und ‑Ausfall.


Nach Konsonant wird g zu j, vgl. sorje ‘sorgen’, folje ‘folgen’ usw. Vor stimmlosem Konsonant erfolgt Entwicklung zu sch: (er) sorscht ‘(er) sorgt’, (dou) folschs ‘(du) folgst’. Zur Verbindung ‑ng- in der Wortmitte s. das fol­gende Kapitel.

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