Rheinhessen

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weiß

Die hellste Farbe wird in der neuhochdeutschen Standardsprache mit dem Ausdruck weiß (im Folgenden weiß1) bezeichnet, und auch die grammatische Form der 3. Person Singular (Einzahl) Präsens (Gegenwart) von wissen heißt (er/sie/es) weiß (im Folgenden weiß2). Beide Begriffe fallen also lautlich (und orthographisch) zusammen. Wie verhalten sich aber weiß1 und weiß2 in den Dialekten? Es ist sinnvoll die Karten 25 weiß (Farbbezeichnung) und 26 (er) weiß vergleichend zu betrachten. Ein Blick auf die in die Karten eingetragenen Belege zeigt, dass in den Dialekten anders als in der Standardsprache mit den beiden Bedeutungen unterschiedliche Lautformen korrespondieren. Wie ist die Divergenz zwischen der Standardsprache (lautlicher Zusammenfall von weiß1 sowie weiß2) und den Dialekten (lautliche Unterschiede zwischen weiß1 sowie weiß2) zu erklären?

Im Mittelhochdeutschen lautet die Form für weiß1 a. Mittelhochdeutsch î (weitere Wortbeispiele sind mittelhochdeutsch wîn ‘Wein’ (Karte 14), glîch ‘gleich’ sowie wît ‘weit’) ist in der gesprochenen neuhochdeutschen Standardsprache über die historische Zwischenstufe äi zu dem Diphthong (Zwielaut) ai geworden, so dass sich z. B. für weiß folgende chronologische Abfolge ergibt: wiißwäißwaiß, geschrieben: aweißweiß. Wie man sieht, trägt die heutige Orthographie dem Lautwert nicht Rechnung. Sie bewahrt die frühere Schreibung mit ei, obwohl die lautliche Entwicklung weiter Richtung ai gegangen ist. Wir schreiben heute zwar weiß, Wein, gleich, weit, sprechen jedoch waiß, Wain, glaich, wait.

Das mittelhochdeutsche Wort für weiß2 lautet weia. Der mittelhochdeutsche Diphthong ei wird äi gesprochen, es heißt also wäiß. (Weitere Beispiele sind mittelhochdeutsch klein, breit, seil.) In der weiteren Entwicklung hat sich auch hier die Lautung von äi zu neuhochdeutsch standardsprachlich ai gewandelt. Das Schriftbild wurde auch in diesem Fall der veränderten Aussprache nicht angepasst, so dass wir heute zwar wie im Mittelhochdeutschen ei schreiben, aber ai sprechen; Schreibung: klein, breit, Seil – Aussprache: klain, brait, Sail. (Nur in seltenen Ausnahmefällen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, wird heute ai geschrieben, z. B. Laib, Waise.)

Durch den soeben skizzierten sprachlichen Wandel sind also mittelhochdeutsch î und ei in der neuhochdeutschen Standardsprache zu ei, gesprochen ai, zusammengefallen. In den Dialekten hingegen trat – von bestimmten Ausnahmen (vgl. Karte 27 Ei) abgesehen – ein Zusammenfall nicht ein. Wörter wie weiß1, Wein, gleich, weit einerseits und weiß2, klein, breit, Seil andererseits, die in der Standardsprache den gleichen Vokal (Selbstlaut) aufweisen, zeigen in den Dialekten unterschiedliche Laute. In Ürzig, einem kleinen Moselort in der Nähe von Bernkastel-Kues zum Beispiel lauten die Wörter der ersten Gruppe wäiß, Wäin, gläich, wäit, die der zweiten wääß, klään, bräät, Sääl.

Karte 25: weiß (Farbbezeichnung). Drenda, Georg: Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, S. 68.[Bild: Georg Drenda (IGL)]

Betrachten wir nun vergleichend die Karten 25 und 26. Wir können uns jeweils ausschließlich auf den Vokal konzentrieren, da die Konsonanten (Mitlaute) w und ß nicht variieren. Zunächst zur Karte 25 weiß1: Über die Entwicklung von mittelhochdeutsch î in den Dialekten wurde bereits im Kommentar zur Karte 14 Wein gesprochen. Ich verweise auf diesen Text und beschränke mich an dieser Stelle auf die Beschreibung der dialektalen Arealstrukturen, sofern sie von denen der Karte Wein abweichen. Im äußersten Norden des Kartenausschnitts wird mit der Form wiiß ein südlicher Ausläufer der ripuarischen Lautverhältnisse erfasst. Im Ripuarischen ist mittelhochdeutsch î - von Ausnahmen abgesehen – nicht zu einem Diphthong geworden. Ein zweites Mal erscheint eine Form mit i in einem Areal südlich von Saarbrücken: wiss. Auch in diesem Fall wurde mittelhochdeutsch î nicht diphthongiert, jedoch gekürzt. Wir fassen hier den nordwestlichen Ausläufer des südwestdeutschen Gebietes, in dem mittelhochdeutsch î – wieder von Ausnahmen abgesehen – nicht einen Diphthong entwickelt hat. Im größten Teil unseres Gebietes kommen die Varianten wäiß und (seltener) waiß vor, wobei östlich einer Linie etwa Pirmasens – Kusel – Bingen wäiß so gut wie nicht belegt ist. In der Pfalz zwischen Ludwigshafen, Kaiserslautern und Speyer ist der Diphthong ai zu oi geworden: woiß. Das oi-Areal ist hier um einiges kleiner als in der Karte 14 Wein. Es wird vermutet, dass folgendes n die „Verdumpfung“ von ai zu oi begünstigt. Um Mainz finden sich zerstreut einige (nicht kartierte) wääß-Belege. Der Diphthong ai hat sich hier zu ää weiterentwickelt, wofür sich weitere Beispiele anführen lassen: Sääd ‘Seide’, Ääs ‘Eis’ usw.

Karte 26: weiß (3. P. Sg.). Drenda, Georg: Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, S. 69.[Bild: Georg Drenda (IGL)]

Zur Karte 26 weiß2: Das Wort erscheint überwiegend als weeß oder wääß. Die areale Verteilung der Varianten kann der Karte entnommen werden. Um Mayen sowie in Rheinhessen und in der Nordpfalz heißt es waaß, in den beiden letztgenannten Gebieten auch wòòß.

Zwischen Koblenz und St. Goar finden sich Dialekte, in denen waiß gesagt wird (was den Verhältnissen in der Standardsprache entspricht). Ein lautlicher Zusammenfall mit weiß1 findet in diesem Fall nicht statt, weil weiß1 in den betreffenden Dialekten wäiß lautet.

Literaturverzeichnis

Die im Text erwähnte Literatur finden Sie hier (Literaturverzeichnis).

Hinweise zu den Karten

Lesen Sie hier Hinweise des Autors zum besseren Verständnis der Atlaskarten.

Mehr zum Thema

Der obenstehende Inhalt ist entnommen aus Georg Drenda (2008): Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Stuttgart.

Zitierhinweis

[Begriff] (Kartennummer), in: Georg Drenda (2008): Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, digitalisierte Version auf Regionalgeschichte.net, < URL >, abgerufen am TT.MM.JJJJ.

z.B.: suchen (Karte 37), in: Georg Drenda (2008): Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, digitalisierte Version auf Regionalgeschichte.net, <https://www.regionalgeschichte.net/rheinhessen/sprache/dialektatlas-rlp-saar/begriffe-dialektatlas-rlp-saar/lautkarten/suchen.html>, abgerufen am 01.01.2022.