Magenza - die Geschichte des jüdischen Mainz
0.1.1000 Jahre jüdisches Mainz - ein Überblick
Die jüdische Gemeinde Mainz kann auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurückblicken und gehört damit zu den ältesten jüdischen Gemeinden in Deutschland. Sie erlebte im Lauf der Jahrhunderte wechselvolle Zeiten, in denen es neben Abschnitten des friedlichen Zusammenlebens mit der nichtjüdischen Bevölkerung immer wieder Verfolgungen und Vertreibungen gab. Nach der ersten Erwähnung von Juden im Mainzer Raum um 900 kam es im 11. Jahrhundert zu einer geistigen Blüte der jüdischen Gemeinde, bis sie 1096 durch den Pogrom während des ersten Kreuzzuges ausgelöscht wurde. Nach der Wiedergründung bildete die Mainzer Gemeinde zusammen mit den Gemeinden von Worms und Speyer das religiöse Zentrum des aschkenasischen Judentums.
Nach ihrer Vertreibung aus Mainz am Ende des 15. Jahrhunderts gab es hier fast hundert Jahre lang keine jüdische Gemeinde. Danach siedelten sich wieder Juden in größerer Zahl in der Stadt an. Sie wurden im 17. Jahrhundert durch zahlreiche Vorschriften und Verbote in ihren Betätigungsmöglichkeiten stark eingeschränkt und mussten in einem Ghetto wohnen. Erst im Zuge der Aufklärung erhielten sie größere Freiheiten. Die vollständige bürgerliche Gleichstellung erhielten sie jedoch erst Ende des 18. Jahrhunderts, als Mainz unter französischer Verwaltung stand.
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erlebte die jüdische Gemeinde dann eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit, bevor sie nach 1933 durch die Nationalsozialisten vollständig vernichtet wurde. Nach 1945 bildete sich eine sehr kleine neue Gemeinde, die erst seit den 1990er Jahren zahlenmäßig wieder stark angewachsen ist.
0.2.Die jüdische Gemeinde Mainz im Mittelalter
0.2.1.Die Anfänge
Die Gründung einer jüdischen Gemeinde in Mainz ist in Zusammenhang mit der Entwicklung der rheinischen Judengemeinden im 10. und 11. Jahrhundert zu sehen. Diese entstanden parallel zur Ausbildung des hochmittelalterlichen Städtewesens. Eindeutige Nachweise für die Existenz von Juden in Mainz gibt es erst für die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts. Sie siedelten damals vorwiegend im Bereich Flachsmarktstraße/Schusterstraße. Für ein bereits früheres Bestehen einer jüdischen Gemeinde in dieser Stadt sprechen allerdings die historischen Gegebenheiten, denn Mainz war im 9. Jahrhundert zu einem wichtigen Handelsplatz geworden. Bezeugt ist der Handel mit Gütern aus der gesamten damals bekannten Welt. Maßgebliche Träger des Fernhandels waren dabei die Juden. Mit der aus Lucca in Italien zugewanderten Familie der Kalonymos begann die Blütezeit des jüdischen Mainz. Unter ihrem Einfluss wurde die Gemeinde ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Die am Übergang vom 10. zum 11. Jahrhundert lehrenden Rabbiner Jehuda ben Meir gen. Leontin und Gerschom ben Jehuda (960-1040) gründeten in der Stadt eine Jeschiwa (jüdische Hochschule, dem Studium der Tora und des Talmud gewidmet) von überregionaler Bedeutung.
In Mainz siedelten die Juden, wie alle Fremden und bestimmte Berufszweige, als Gruppe, da sie als solche vom Landesherrn betrachtet wurden. Ihrer Beschäftigung im Handel entsprechend lebten sie dort, wo der meiste Verkehr herrschte und Markt gehalten wurde. Die älteste Ansiedlung von Juden im mittelalterlichen Mainz erstreckte sich von der Betzelsgasse und der Stadthausstraße über Teile der Schustergasse und Christophsstraße bis zum Flachsmarkt. Die von ihnen bewohnte Gegend hieß „Unter den Juden“. Hier befanden sich das jüdische Hospital, die Metzgerei, das Backhaus und die Synagoge. Dabei war das damalige Judenviertel zu keinem Zeitpunkt – anders als die Judenviertel des 14. Jahrhunderts in Köln und Trier – durch Mauern oder Tore abgeschlossen. Die meisten Häuser in diesem Gebiet waren vielmehr von Nichtjuden bewohnt.
0.2.2.Die Verfolgungen im Zuge des ersten Kreuzzugs von 1096
1095 rief Papst Urban II. zum Kreuzzug ins Heilige Land auf. Die Kreuzfahrerheere sammelten sich im Frühjahr 1096 im Rheinland. Aufgestachelt durch radikale Äußerungen ihrer Anführer ließen sich die Massen zu Plünderungen und Morden an den Juden im eigenen Land hinreißen. Nach Verfolgungen in Speyer und der Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Worms erschienen die Kreuzfahrer, angeführt von Graf Emicho aus dem Nahegau, am 25. Mai 1096 vor den verschlossenen Mainzer Stadttoren. Die Juden flüchteten sich in den Bischofspalast, da ihnen Erzbischof Ruthard und Burggraf Gerhard gegen eine Geldzahlung Schutz versprochen hatten. Als die Lage immer bedrohlicher wurde, öffneten die Mainzer die Stadttore. Der Erzbischof, dem die Kreuzfahrer ebenfalls gedroht hatten, floh mit seinen Leuten aus der Stadt und überließ die Juden ihrem Schicksal. Die eingeschlossenen Juden im Bischofshof bewaffneten sich und versuchten vergeblich, sich zur Wehr setzen. Die meisten von ihnen wurden von den Kreuzfahrern umgebracht. Einige wählten den Freitod, um der Zwangstaufe zu entgehen. Die Zahl der Opfer lag nach zeitgenössischen Quellen zwischen 700 und 1.300.
0.2.3.Die SchUM-Städte
Schon bald bildete sich erneut eine Jüdische Gemeinde in Mainz. Mit den Nachbargemeinden in Speyer und Worms kam es zu einer engen Verflechtung. Nach den Anfangsbuchstaben ihrer hebräischen Namen (Schpira, Warmaisa und Magenza) wurden sie „SchUM-Gemeinden“ genannt. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts versammelten sich ihre Rabbiner auf Synoden. Die dort gefassten Beschlüsse und Verordnungen fanden überregionale Verbreitung und erlangten Gültigkeit im gesamten aschkenasischen Judentum.
0.2.4.Neue Verfolgungen
Nach einer langen Zeit der relativen Ruhe brach Mitte des 14. Jahrhunderts erneut eine Katastrophe über die Mainzer Juden herein. Sie wurde durch eine Pestepidemie ausgelöst. Da sich niemand die Ursache des Sterbens erklären konnte, entstanden zahlreiche Gerüchte und Verdächtigungen. Man warf den Juden vor, sie hätten die Brunnen vergiftet. Vielerorts im Reich wurden die Juden aus den Städten vertrieben und es kam zu blutigen Pogromen, so auch in Mainz. Der Rat der Stadt versuchte zwar, seine Juden zu schützen, konnte aber am 23. August 1349 das Wüten und Morden der fanatisierten „Judenschläger“ nicht verhindern. Die meisten Juden wurden niedergemetzelt.
Dennoch siedelten sich in Mainz rasch wieder Juden an. Sie mussten nun einen Vertrag mit dem Rat der Stadt abschließen, der ihnen gegen Zahlung einer Steuer ein befristetes Wohnrecht und einen gewissen Schutz garantierte.
Im 15. Jahrhundert gerieten die Juden zunehmend in den Strudel der Politik. Das neue Selbstbewusstsein der Städte führte dazu, dass man auf die Juden als die hauptsächlichen Träger der städtischen Wirtschaft verzichten zu können glaubte. Viele Städte und Territorien vertrieben ihre Juden, die sich nach Osteuropa retteten. Auch in der Stadt Mainz, die in dieser Zeit von Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Zünften erschüttert wurde, sah man die Juden als unliebsame Konkurrenten. Im Juli 1438 befahl der Stadtrat den Auszug aus der Stadt und ließ die Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof (dem „Judensand“) herausreißen. 1445 wurden Juden zwar wieder zugelassen, die Gemeinde war jedoch auf 100 bis 130 Mitglieder (gegenüber 600 bis 700 vor der Ausweisung) geschrumpft.
1470 verbot dann Erzbischof Adolf von Nassau, der 1462 in einer kriegerischen Auseinandersetzung die Macht erobert und die Stadt Mainz ihrer kommunalen Freiheiten beraubt hatte, allen Juden den Aufenthalt im Kurstaat und damit auch in der Stadt Mainz. In den darauffolgenden mehr als 100 Jahren lassen sich nur wenige Juden in Mainz nachweisen.
0.2.5.Die frühneuzeitliche Gemeinde
Erst unter Kurfürst Wolfgang von Dalberg kam es zu einer Neugründung der jüdischen Gemeinde. Er gestattete den Juden kurz nach seinem Regierungsantritt im Jahr 1582 wieder die dauerhafte Ansiedlung in Mainz. Die anfänglich nur kleine Gemeinde vergrößerte sich ab Beginn des 17. Jahrhunderts durch Zuzug aus den Städten Frankfurt und Worms, aus denen die Juden gewaltsam vertrieben wurden. 1630 erhielt die Gemeinde das Privileg, einen eigenen Rabbiner anzustellen.
0.3.Der alte jüdische Friedhof
In Mainz befindet sich, neben Worms, die älteste jüdische Begräbnisstätte Europas. Die ältesten Grabsteine stammen aus dem frühen 11. Jahrhundert. Dieser mittelalterliche Friedhof wurde allerdings kurz nach der Ausweisung der Mainzer Judengemeinde im Jahr 1438 zerstört, die meisten Steine herausgerissen und als Baumaterial verwendet. Das alte Friedhofsgelände wurde zwar auch nach der Vertreibung von 1470 mit offizieller Erlaubnis in Einzelfällen weiterbenutzt, doch muss es sich in einem recht erbärmlichen Zustand befunden haben. Aus der Zeit zwischen der Mitte des 15. und dem Ende des 17. Jahrhunderts sind keine Grabsteine erhalten. Dazu mag auch der Sandboden des „Judensands“ beigetragen haben, in den die Steine schnell einsanken. Ab Anfang des 18. Jahrhunderts diente das Gelände an der Mombacher Straße wieder als Begräbnisstätte, bis es 1880 durch den Neuen Jüdischen Friedhof an der Unteren Zahlbacher Straße abgelöst wurde.
Als man im 19. Jahrhundert bei Bauarbeiten im Stadtgebiet von Mainz rund 180 mittelalterliche Grabsteine fand, die vom alten Judensand stammten, entstand der Plan, sie am alten Ort wieder aufzustellen. Im Oktober 1926 eröffnete schließlich Rabbiner Sali Levi in Anwesenheit vieler staatlicher, städtischer und kirchlicher Würdenträger den Denkmalfriedhof auf dem oberhalb des frühneuzeitlichen Friedhofs gelegenen Gelände.
0.4.Das Judenviertel
Mitte des 17. Jahrhunderts war die Gemeinde zahlenmäßig so angewachsen, dass sich die christlichen Bürger, vor allem die Krämerzunft, über die unliebsame Konkurrenz beschwerten. Kurfürst Johann Philipp von Schönborn reagierte mit einer einschneidenden Maßnahme, indem er per Dekret vom 8. Dezember 1662 die Anzahl der Schutzjuden mit ihren Familien auf 20 begrenzte. Neun Jahre später wurde die Zahl der Familien auf zehn reduziert. Außerdem war in dem Dekret festgelegt, dass die Juden nun in einer Gasse zusammenwohnen sollten. Ihnen wurde die sogenannte geschlossene Judengasse zwischen der Klara- und der Löwenhofstraße zugewiesen, wo allerdings bald Platzmangel herrschte. Auch die wirtschaftlichen Beschränkungen waren rigoros. So waren den Juden nur nicht-zünftige Berufe erlaubt. An christlichen Sonn- und Feiertagen mussten die Juden in ihrer Gasse bleiben, die Tore geschlossen halten und sich „alles ärgerlichen Auslaufens und Hantierens“ enthalten.
Die Bilder zeigen eindrucksvoll den Platzmangel in der geschlossenen Judengasse. Fast alle Häuser waren vierstöckig, die Gasse wirkt eng und gedrängt. Deutlich ist auf dem Bild des Beerdigungszuges das Tor zu erkennen, mit dem die Gasse auf der einen Seite geschlossen gehalten werden sollte. Am anderen Ende der Gasse befand sich die Judenwache.
Aufgrund des Anwachsens der Gemeinde wurde das Ghetto in den folgenden Jahrzehnten um die offene Judengasse, d.h. die heutige Vordere Synagogenstraße, die Margaretengasse und die Löwenhofstraße erweitert.
Die Wohnsituation im Judenviertel stellte sich um 1785 folgendermaßen dar: Es gab in den beiden Judengassen insgesamt 63 Wohnhäuser. Davon waren 47 in jüdischem Besitz, wobei diese aber stark mit Hypotheken belastet waren. Durchschnittlich wohnten 2,3 Familien bzw. 13 Personen in einem Haus. Es herrschte eine unvorstellbare Enge, die durch das Anwachsen der Gemeinde und die Bauweise der Häuser noch verstärkt wurde. Die Grundstücke im Judenviertel waren durch die räumlichen Beschränkungen ineinander verschachtelt, schmal und sehr tief. Es gab meist viergeschossige Gebäude mit zwei- bis dreifenstrigen Hausfronten. Die drei Zimmer jeder Etage und das Treppenhaus lagen hintereinander, was den engen Eindruck noch verstärkte. So muss es als Zeichen einer besonderen sozialen Stellung gewertet werden, wenn es einzelnen Familien gelang, mit nur wenigen Personen ein ganzes Haus zu bewohnen. Moyses und Samuel Goldschmidt besaßen jeweils ein Haus, das sie mit nur vier Personen bewohnten.
0.4.1.Die Zeit der Aufklärung
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts brachte den Mainzer Juden im Zuge der Aufklärung kleinere Erleichterungen. Eine erstaunlich hohe Zahl von Verordnungen – insgesamt mehr als 30 – befasste sich speziell mit den Juden. Von besonderer Bedeutung war dabei die landesherrliche Verordnung vom 9. Februar 1784. In ihr wurde den Juden z.B. freigestellt, „ohne es jedoch zu gebieten, daß die jüdische Jugend ebenwie die christliche ohne Unterschied des Geschlechts oder Alters, die christlichen Land- und Stadtschulen, Real- und Normalschulen, namentlich jene in der Residenzstadt Mainz, und Schulen alle Art besuchen möge“. Weiterhin wurde ihnen die gleiche Behandlung vor dem Gesetz wie Christen zugesichert, und es war Juden erlaubt, Fabriken und Geschäfte zu gründen, die nicht den Zünften vorbehalten waren. Zur besseren landwirtschaftlichen Erschließung bisher unzureichend genutzten Geländes wurde den Juden der Grunderwerb gestattet, „um die Grundstücke in Ertrag und Werth zu bringen“.
Die Fülle der Verordnungen spiegelt aber noch kein erhöhtes Interesse der Landesregierung an der Verbesserung der sozio-ökonomischen Situation der Juden wider. Vielmehr ist die Verordnungsflut einzuordnen in die generelle Tendenz des Aufgeklärten Absolutismus, möglichst umfassend alle Lebensbereiche der Untertanen administrativ zu erfassen. Eine vollständige Emanzipation der Juden konnte sich die ständisch gegliederte Gesellschaft des 18. Jahrhunderts noch nicht vorstellen. Dennoch wurden die Reformen in Mainz weiter vorangetrieben als in anderen Territorien.
0.4.2.Die Zeit der Emanzipation
Die bürgerliche Gleichstellung erhielten die Mainzer Juden erst unter der französischen Herrschaft am Rhein im Jahr 1798. Das Judenviertel wurde geöffnet. Die Einführung der Gewerbefreiheit beseitigte die jahrhundertealten beruflichen Beschränkungen. Obwohl etliche Juden die neuen Möglichkeiten nutzten, um freie Berufe, wie Arzt, Rechtsanwalt oder Wissenschaftler, zu ergreifen, blieb die Mehrzahl der Mainzer Juden dem Handel treu, da sie hierin Erfahrung hatten und überregionale Verbindungen besaßen.
Anfang des 19. Jahrhunderts bildete sich zunehmend eine neue Gemeinde- und Sozialstruktur heraus. 1853 kam es nach Streitigkeiten zu einer Aufspaltung der Gemeinde in einen liberal-reformierten (der die Mehrheit bildete) und einen orthodoxen Teil. Sie unterschieden sich z.B. darin, dass die reformierte Gemeinde die strenge Abtrennung der Frauensynagoge aufheben wollte und die 1853 neu errichtete Synagoge mit einer Orgel ausstattete. Daraufhin errichtete die orthodoxe Israelitische Religionsgesellschaft 1856 in derselben Straße im alten Judenviertel eine eigene Synagoge. Diese wurde 1879 nach Plänen des Mainzer Stadtbaumeisters Eduard Kreyßig stark erweitert und umgebaut. Beide Synagogen waren im maurischen Stil erbaut, wie es dem neuen Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinden sowie der Architekturrichtung jener Zeit, einer Variante des Historismus, entsprach.
Beide Teilgemeinden gestalteten in der Folgezeit ihr jeweils eigenes Gemeindeleben mit eigenen Schulen und Einrichtungen, bildeten jedoch nach außen weiterhin eine einzige Körperschaft mit einem Gesamtvorstand. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts war das Leben der meisten Mainzer Juden von beruflichem und wirtschaftlichem Erfolg geprägt. Juden spielten auch eine wichtige Rolle im Kultur- und Vereinsleben der Stadt, und die Assimilation machte rasche Fortschritte.
0.5.Die neue Hauptsynagoge von 1912
Ein weithin sichtbares Zeichen für den Wohlstand und das Selbstverständnis dieser Generation war der Bau der neuen prächtigen Hauptsynagoge, welche die zu klein gewordene liberale Synagoge im alten Judenviertel ersetzen sollte. Sie wurde in den Jahren 1911/12 in der Hindenburgstraße/Ecke Josefsstraße, wo infolge der Stadterweiterung ein großes Grundstück zur Verfügung stand, nach Plänen des Stuttgarter Architekten Willy Graf errichtet. Mittelpunkt der Anlage war ein Rundbau mit einer großen Kuppel, in dem sich der Betraum befand. Hier fanden 580 Sitzplätze für Männer Platz. Die Frauen, die die Synagoge über einen eigenen Eingang in der Josefsstraße betraten, saßen auf der Empore im ersten Stock, wo sich auch die Orgel und der Platz für den Chor befanden. Von dem Rundbau ausgehend erstreckten sich zwei zweigeschossige Seitenflügel. Darin befanden sich das Gemeindehaus, die Verwaltung und die Bibliothek.
Das Gotteshaus wurde 1912 geweiht. Zu dieser Zeit war Prof. Siegmund Salfeld Rabbiner der reformierten Mainzer Judengemeinde, der 1880 in dieses Amt berufen worden war. Er betrieb intensive Forschungen, u.a. zur Geschichte der Mainzer Juden, fertigte Transkriptionen und Übersetzungen mittelalterlicher jüdischer Grabsteine an, die im Stadtgebiet beim Bau der Eisenbahn gefunden worden waren, leistete Vorarbeiten für die Schaffung eines Museums jüdischer Altertümer und veröffentlichte u.a. 1903 das Werk „Bilder aus der Vergangenheit der jüdischen Gemeinde Mainz“. Ebenso verfasste er zahlreiche Artikel für die Germania Judaica. Salfelds wissenschaftliches Werk hat bis heute Bestand. Für seine Verdienste um die Wissenschaft verlieh ihm der hessische Großherzog den Ehrentitel „Professor”. Die Einweihung der neuen Synagoge 1912 war für Salfeld der Höhepunkt seines Rabbinerlebens.
In Mainz lebten um diese Zeit rund 3.000 Juden. Sie waren weitgehend in das gesellschaftliche Leben der Stadt integriert, leisteten einen wichtigen Beitrag zur Förderung von Kultur und Wissenschaft und übernahmen Ehrenämter in der Stadtverordnetenversammlung, im Stadtvorstand, in der Handelskammer und in vielen Vereinsvorständen. Viele jüdische Männer kämpften im Ersten Weltkrieg, was zeigt, wie sehr sie sich mit ihrem deutschen Vaterland identifizierten. 64 Mainzer Juden fielen an der Front.
1918 ging Prof. Salfeld in den Ruhestand. Zu seinem Nachfolger wurde Dr. Sali Levi berufen, der in Mainz ebenfalls bald hoch angesehen und ein hervorragender Redner war. Bei verschiedenen öffentlichen Anlässen wurde er gebeten, die Festansprache zu halten. Er gehörte zu den Mitbegründern der Volkshochschule Mainz. Am 3. Oktober 1926 konnte er das Museum jüdischer Altertümer im Anbau der Hauptsynagoge eröffnen, wofür Dr. Karl Ladenburg und der „Verein zur Pflege jüdischer Altertümer“ die Vorarbeiten geleistet hatten. Am gleichen Tag weihte Levi den jüdischen Denkmalfriedhof am alten Judensand, auf dem die im Stadtgebiet gefundenen Grabsteine aus dem Mittelalter aufgestellt wurden, darunter Grabsteine von bedeutenden Rabbinern und Gelehrten seit dem 11. Jahrhundert. In Versammlunen gegen Ende der Weimarer Republik hielt Sali Levi mutige Reden gegen die erstarkende NSDAP.
0.6.Beginn der Ausgrenzung und Entrechtung
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 veränderte sich das Leben der Mainzer Juden rasch. Es zeigte sich, dass die vermeintliche Integration in die deutsche Gesellschaft ein Trugschluss war. Nach den ersten Boykotten von Kaufhäusern, Geschäften, Arzt- und Rechtsanwaltspraxen im März und am 1. April 1933 wurden sie durch immer neue Gesetze und Verordnungen schrittweise ausgegrenzt, aus Vereinen und Verbänden ausgeschlossen, von Nachbarn und bisherigen Freunden gemieden und ihrer Existenzmöglichkeiten beraubt. Jüdische Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst wurden entlassen, jüdischen Ärzten wurde die Kassenzulassung, jüdischen Rechtsanwälten die Zulassung bei Gericht entzogen. Juden durften nicht mehr an den Universitäten studieren und wurden aus den öffentlichen Schulen gedrängt. 1934 richtete die Jüdische Gemeinde Mainz mit staatlicher Genehmigung in einem Anbau der Hauptsynagoge die „Jüdische Bezirksschule“ ein. Hier und in der Bondi-Schule wurden nun fast alle jüdischen Kinder aus Mainz und dem gesamten Umland unterrichtet. Hier waren sie vor antisemitischen Lehrern und den Angriffen durch fanatische Hitlerjungen geschützt und wurden gezielt auf die Auswanderung vorbereitet.
Durch die „Nürnberger Gesetze“ vom September 1935 verloren Juden den Status als „Reichsbürger“ und wurden zu Staatsangehörigen zweiter Klasse. Außerdem waren nun Eheschließungen und sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden verboten und wurden unter Strafe gestellt. Auf nichtjüdische Kunden übten die Nationalsozialisten Druck aus, nicht mehr in Geschäften jüdischer Inhaber einzukaufen. Die jüdischen Geschäftsleute wurden zur Schließung ihrer Unternehmen gezwungen oder mussten sie, meist weit unter Wert, an „Arier“ verkaufen.
Einen Höhepunkt erreichte der Terror gegen die Juden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als in Mainz, wie überall im Deutschen Reich, die Synagogen angezündet wurden. Mit der Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße brannte auch die Jüdische Bezirksschule aus. Ebenso wurde die orthodoxe Synagoge in der Flachsmarktstraße/Ecke Margaretengasse, mit der dazugehörigen Bondi-Schule zerstört. Am 10. November zogen fanatische NS-Horden durch die Straßen, verwüsteten Geschäfte und Wohnungen jüdischer Inhaber und misshandelten die Bewohner. Wie in anderen Städten, wurden auch in Mainz zahlreiche jüdische Männer verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert.
0.7.Deportation und Ermordung der Mainzer Juden
Nach Kriegsbeginn wurden die meisten Mainzer Juden, denen es bisher nicht gelungen war zu emigrieren, gezwungen, ihre Wohnungen zu räumen. Man konzentrierte sie in sogenannten „Judenhäusern“, wo sie dicht zusammengedrängt leben mussten. Die Wohnungen mussten von den Bewohnern mit einem schwarzen Davidstern auf weißem Papier gekennzeichnet werden. Die jüdische Bevölkerung erhielt nur sehr eingeschränkte Zuteilungen an Nahrungsmitteln und durfte nur noch in einigen wenigen Geschäften einkaufen. Die meisten litten großen Hunger. Kranke erhielten keine ausreichende ärztliche Versorgung, da nichtjüdische Ärzte sie nicht mehr behandeln durften. Immer neue Verordnungen schrieben die Ablieferung von Autos, Fahrrädern, Silbergegenständen, Schmuck, Pelzmänteln, Schreibmaschinen, Radios und vielen anderen Gegenständen vor. Schließlich durften Juden auch keine Haustiere mehr halten.
Im Oktober 1941 beschloss die nationalsozialistische Reichsführung ein Auswanderungsverbot für Juden. Hatte sie zunächst auf die Vertreibung möglichst vieler Juden aus Deutschland gesetzt, so plante sie nun die physische Vernichtung der europäischen Juden.
In Mainz wurden im März 1942 die ersten 470 jüdischen Frauen, Männer und Kinder deportiert. Sie wurden ab 20. März in der Turnhalle der Feldbergschule gesammelt, dann vom Güterbahnhof nach Darmstadt gebracht und von dort mit einem Transport von insgesamt 1.000 Menschen aus Hessen in das Ghetto Piaski bei Lublin im von der Wehrmacht besetzten Polen transportiert. In diesem Lager herrschten katastrophale Zustände. Arbeitsfähige mussten bis zur Erschöpfung Zwangsarbeit leisten. Die Menschen hungerten, Epidemien forderten viele Todesopfer. Die Überlebenden wurden wenige Wochen später in die Vernichtungslager Majdanek und Sobibor verschleppt und ermordet.
Ende September 1942 folgten weitere Transporte. Am 27. September wurden 453 zumeist ältere Menschen in das Lager Theresienstadt im „Protektorat Böhmen-Mähren“ gebracht. Man hatte ihnen einen „Altersruhesitz für Juden“ versprochen. In Wirklichkeit mussten sie in völlig überfüllten Unterkünften unter den schlimmsten hygienischen Verhältnissen leben. Viele Menschen starben an Seuchen oder Unterernährung. Um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen, rollten immer wieder Transporte aus Theresienstadt nach Auschwitz in die Gaskammern.
Am 30. September 1942 wurden nochmals 883 hessische Juden, darunter 178 aus Mainz, direkt in ein Vernichtungslager, wahrscheinlich nach Treblinka, deportiert. Sie wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Etwa 20 weitere Mainzerinnen und Mainzer, die zunächst durch eine Ehe mit einem nicht-jüdischen Partner oder als kriegsversehrte Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg verschont worden waren, mussten im Februar 1943 und Anfang 1944 die Reise nach Theresienstadt antreten.
Die einstmals blühende jüdische Gemeinde Mainz war ausgelöscht.
0.8.Die Neugründung der jüdischen Gemeinde Mainz
Als Mainz im März 1945 von US-amerikanischen Truppen befreit wurde, lebten nur noch etwa 60 Juden in Mainz. Sie waren mit Nichtjuden verheiratet und dadurch zunächst geschützt. Ihre ebenfalls geplante Deportation wurde durch das Kriegsende verhindert. Einige wenige Überlebende kamen aus dem KZ Theresienstadt zurück.
Im Oktober 1945 stellte Michel Oppenheim den Antrag an die französische Militärregierung, wieder eine jüdische Gemeinde bilden zu dürfen. Zum ersten Vorsitzenden wurde Max Waldmann gewählt, ein Überlebender aus Theresienstadt. Mit Hilfe der Franzosen konnte 1947 die Turnhalle der Feldbergschule zu einer provisorischen Synagoge ausgebaut werden. 1952 baute die Gemeinde dann auf ihrem Grundstück in der Forsterstraße 2 das durch Bomben zerstörte Haus wieder auf und richtete darin einen Betsaal ein, der in den 1960er Jahren erweitert wurde und 100 Menschen Platz bot. Die Gemeindel blieb viele Jahre lang auf 120 bis 130 Mitglieder beschränkt. Die wenigsten der emigrierten Mainzer Juden kehrten zurück.
Erst in den 1990er Jahren setzte eine neue Entwicklung ein. Jedes Jahr darf laut Abkommen mit der Bundesrepublik eine bestimmte Anzahl russisch-jüdischer Familien einreisen, die auf die Bundesländer verteilt werden. Heute zählt die Mainzer Gemeinde wieder rund 1.000 Mitglieder.
Da die kleine Synagoge in der Forsterstraße 2 nicht mehr ausreichte, führte die Stadt Mainz 1999 einen Realisierungswettbewerb für eine neue Synagoge durch, aus dem der Kölner Architekt Manuel Herz als erster Preisträger hervorging. Vorangetrieben durch ein Kuratorium, konnten die Pläne schließlich mit tatkräftiger Unterstützung durch die Stadt Mainz und das Land Rheinland-Pfalz umgesetzt werden. Am 3. September 2010 fand in Anwesenheit von 40 ehemaligen Mainzer Juden sowie vielen prominenten Gästen die feierliche Einweihung der neuen Mainzer Synagoge statt, deren ungewöhnliche Architektur viel Beachtung erfährt. Sie steht auf dem Platz der ehemaligen 1938 zerstörten Hauptsynagoge. Die Form des Gebäudes bildet das hebräische Wort „Kedushah“ nach, das in der Liturgie eine Rolle spielt und Heiligung oder Erhöhung bedeutet.
Nachweise
Verfasser/ Red. Bearb. Verfasserin: Hedwig Brüchert 2018
Vollständige Neubearbeitung der Fassung auf der CD: 2000 Jahre Mainz - Geschichte der Stadt digital
Erstellt: 28.05.2018