0.Die Gründung des Mainzer Carneval-Vereins und erster Rosenmontagszug 1838
0.1.Die Reformierung der Fastnacht in Mainz - Ranzengarde, Carneval-Verein und erster Rosenmontagszug
Ursprung und Vorbild der Neugestaltung der Mainzer Fastnacht ist die Kölner Reform des Jahres 1823. [Anm. 1] Neben der Organisation eines geordneten Zuges am Fastnachtsmontag, der Festlegung eines alljährlich wechselnden Zugmottos und der Abhaltung von Generalversammlungen war es in Köln vor allem die Institutionalisierung bestimmter Aufgaben in Komitees und Unterausschüsse, die den neuen – auf Initiative der geistigen und wirtschaftlichen Oberschicht der Stadt reformierten – Karneval prägten [Anm. 2] Die Kölner hatten der Fastnacht damit einen beständigen Rahmen verliehen und einen Stein ins Rollen gebracht, sodass in der Folgezeit auch in anderen Städten Komitees gegründet und Züge organisiert wurden, etwa in Speyer (1830), Bingen (1833), Saarbrücken (1835), Kaiserslautern (1838), Worms (1840), Vallendar (1842), Trier (1848), Andernach (1858), St. Goar (1860) oder Ahrweiler (1863). [Anm. 3]
In Mainz vollzog sich die Reform auf Betreiben des Kaufmanns Nikolaus Krieger. Er war es, der 1837 aus bis dato kleineren Umzügen von Stammtischen oder Handwerkszünften einen einzigen großen Fastnachtzug zusammenstellte, der zum Wegbereiter des heutigen Rosenmontagszuges wurde. [Anm. 4] Den sogenannten „Krähwinkler Landsturm“ begleitete zudem eine 15-köpfige närrische Bürgerwehr. Noch im selben Jahr formte der Großkaufmann und Abgeordnete der zweiten Kammer des Hessischen Landtages, Johann Maria Kertell (1771–1839), aus dem närrischen Schutztrupp ein eigenständiges Ranzenbataillon. [Anm. 5] Der Name jenes Bataillons leitete sich aus der körperlichen Statur der Gardisten ab, die kräftige Burschen von mindestens „zwei Zentnern [100 Kg] und einem Leibesumfang von sechs Fuß [180 cm]“ zu sein hatten. [Anm. 6] Dem charakteristischen dicken Ranzen – eine Parodie auf die Soldaten des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm – durfte auch mit Stroh und Kissen nachverholfen werden. [Anm. 7] Kertell selbst wurde erster Präsident und Generalfeldmarschall der Truppe [Anm. 8] Eng verbunden mit der Entstehung der Mainzer Ranzengarde ist auch die folgenreiche Gründung des Mainzer Carneval-Vereins (MCV). So kam der Ranzengarde nicht nur der „militärische“ Schutz der ersten Sitzungen des MCV sowie des Prinzen Carneval zu, 15 der 30 namentlich bekannten Ranzengardisten des ersten richtigen Rosenmontagszuges zählten auch zu den Mitbegründern des MCV. [Anm. 9]
Im Januar 1838 hatten sich 91 Bürger im Gasthaus „Zum Römischen König“ zu einem Komitee zusammengefunden und die Statuten eines Carneval-Vereins ausgearbeitet. Die erste Präsidentschaft des Vereins übernahm der Lederfabrikant Carl Georg Michel, der noch am selben Tag beim Leiter des Kreisamtes Mainz und zugleich Regierungspräsidenten der Provinz Rheinhessen, Freiherr Ludwig von Lichtenberg (1784–1845), um Genehmigung der auf den 19. Januar 1838 datierten Statuten bat. [Anm. 10] Im Rahmen dieser Statuten wurden die Ziele der Fastnacht bekräftigt, Frohsinn und Wohltun zu verbreiten, überschüssige Kasseneinnahmen wohltätigen Zwecken zu spenden und die bestehende Ordnung in Staat, Gesellschaft und Kirche zu erhalten. [Anm. 11] Dabei sollte außerdem das bisherige karnevalistische Gewirr auf den Straßen und Bällen in eine geordnete und ästhetische Form überführt werden. [Anm. 12] Neben der ordnungsstiftenden Komponente waren es wohl vor allem die Aussicht auf wirtschaftliche Erträge für die Stadt, die die Mainzer Behörden positiv gegenüber der Vereinsgründung stimmten [Anm. 13], wobei sicher auch personelle Verflechtungen wie die Ehe Carl Georg Michels mit der Tochter des Mainzer Stadtoberhaupts eine Rolle spielten. [Anm. 14] Lichtenberg genehmigte jedenfalls schon am 22. Januar 1838 die Statuten – allerdings nur für ein Jahr, um sich ein etwaiges Eingreifen der Justiz vorzubehalten. [Anm. 15] Schon kurze Zeit später berief das Komitee die ersten Generalversammlungen und Sitzungen ins Leben. Für insgesamt 4 ½ Gulden konnten Eintrittskarten – die sogenannten „Ordonanz-Gecken-Kappen“ – erworben werden. Im Stadttheater fand erstmals die Aufführung einer Posse mit dem Titel „Hamlet, Prinz von Liliput“ statt.
Auch der Antrag zur Durchführung eines „Fastnachtsmontagszuges“ wurde umgehend bewilligt, woraufhin am 26. Februar 1838, begleitet von einigen hundert Schaulustigen, der erste richtige Rosenmontagszug durch die Straßen von Mainz zog. [Anm. 16] Harlekins, Columbinen, Pollicinelli, Hanswurste, närrische Notablen im Stile des venezianischen Carnevals sowie nicht zuletzt die kostümierte Kinder- bzw. Zwergen-Compagnie bildeten den von der Ranzengarde patrouillierten Zug. Immer wieder führte der Regimentsarzt der Garde, „Dr. Leberthran“, auf dem Weg vom Schlossplatz über die große Bleiche zum Markt zur Belustigung der Zuschauer „kleine Operationen“ vor. Den Höhepunkt des bunten Spektakels stellte neben Gesang, Tanz und vielerlei Späßen die Krönung des Helden Carneval zum Fürsten und König dar. Zudem fand erstmals die Fahnenweihe und Rekrutenvereidigung der Ranzengarde statt – eine Tradition, die bis heute ein fester Bestandteil des Umzuges ist. Zum Abschluss der ersten groß organisierten Fastnachtskampagne fuhren die Narren am Fastnachtsdienstag – geführt von einem Wagen, auf dem eine riesige, in den Fastnachtsfarben montierte Kappe thronte – zum Feiern in ein Wirtshaus am Rande der Stadt. Am Abend tanzte die Gesellschaft schließlich auf dem großen Maskenball im Theater in den Aschermittwoch hinein. [Anm. 17] Damit war die moderne Mainzer Fastnacht begründet, deren Bestandteile – Sitzung, Posse, Orden, Kappe, Zug und Kappenfahrt – bis heute erhalten geblieben sind. [Anm. 18]
0.2.Die Politisierung der Mainzer Fastnacht
Ähnlich wie in Köln war es auch in Mainz die städtische Oberschicht bzw. der gehobene Mittelstand, die zur Reformierung der Fastnacht beitrugen. [Anm. 19]
Dieser Umstand ist wiederum auf die Erstarkung des Mainzer Bürgertums unter französischem Einfluss zurückzuführen. In den Jahren 1792/93 sowie von 1798 bis 1814 war die Stadt von französischen Truppen besetzt und zeitweise sogar offizieller Teil des französischen Staatsgebietes. Dies hatte große Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Strukturen. Infolge der Modernisierung von Verwaltung und Justiz waren dem Besitzbürgertum politische Mitsprachrechte eingeräumt und damit die Grundlagen für das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft geschaffen worden, die auch nachdem Mainz 1816 an das Großherzogtum Hessen gelangte und Hauptstadt der Provinz Rheinhessen wurde, weitgehend erhalten blieben. [Anm. 20] Dennoch kann nicht von einer grundlegenden Politisierung der Fastnacht bereits zu Gründungszeiten gesprochen werden. Nachdem der Funke der Französischen Julirevolution 1830 auch auf deutschen Boden übergesprungen war und sich in den Ereignissen im Vormärz (Hambacher Fest 1832, Sturm der Frankfurter Wache 1833) erste revolutionäre Anzeichen bemerkbar machten, forcierten die Regierungen Maßnahmen zur Eindämmung von freiheitlichen und nationalen Bestrebungen. So fanden auch im Großherzogtum Hessen Gesetze gegen Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit strenge Anwendung. [Anm. 21] In der Frühphase der Mainzer Fastnacht in den 1830er Jahren war eine Politisierung angesichts der strengen Gesetzeslage noch nicht möglich. Die Gründung der Ranzengarde und des MCV mit der Absicht einer politischen Opposition oder Plattform des politischen Meinungsaustausches wäre von den Behörden nicht genehmigt worden. [Anm. 22]
Hingegen erfuhr die Fastnacht in den vierziger Jahren durchaus eine Politisierung und spiegelte damit den Zustand der allgemeinen unruhigen politischen Lage am Vorabend der Märzrevolution 1848 wider. [Anm. 23] Mit der Etablierung der beiden Presseorgane „Narhalla“ und „Neue Mainzer Narrenzeitung“ war die spezifisch politisch-literarische Mainzer Fastnacht geboren. Büttenreden, Glossen und Lieder dienten engagierten Publizisten inmitten des repressiven Klimas dazu, ihren politischen Forderungen oder ihrer Kritik an den öffentlichen Zuständen Ausdruck zu verleihen. Ihre Narren-Freiheit verschaffte den Fastnachtern eine Nische der Pressefreiheit. [Anm. 24] Der Karnevalist Bamberger formulierte darüber hinaus: „In der Zeit des politischen Elends flüchtete sich der frondierende Geist in diese Verkleidung. So kam es, daß die Führerschaft des Carnevalsvereins zur politischen designierte.“[Anm. 25] Insbesondere ab 1943 beeinflussten der neue Präsident des MCV, der Rechtsanwalt und später demokratischer Landtags- und Paulskirchenabgeordnete Dr. Franz Zitz (1803–1877) sowie der neue demokratische Sekretär des Komitees, Dr. Philipp Wittmann, erheblichen das politische Engagement des Carneval-Vereins. [Anm. 26] Erst durch das Wirken dieser beiden Juristen erhielt Mainz seinen charakteristischen Ruf, oppositionell und demokratisch zu sein. Als Träger der Revolution von 1848 verbreiteten sie die Ideale der Französischen Revolution bereits in ihren Büttenreden. [Anm. 27] Obwohl in der Folgezeit vermehrt Konflikte mit den Behörden zu verzeichnen waren, hielten die Bürgermeister Metz und Nack sowie der Regierungspräsident von Lichtenberg, die dem fastnachtlichen Treiben alljährlich selbst mit Freuden beiwohnten, dennoch schützend ihre Hand über den MCV. [Anm. 28] Als schließlich 1848 die Revolution ausbrach, wurden dann aus Fastnachtern wie Ludwig Bamberger und Franz Zitz Revolutionäre, die an der Seite des aufständischen rheinhessischen Armeekorps bei Kirchheimbolanden gegen die Preußen kämpften. [Anm. 29] Mit dem Scheitern der Revolution endete vorerst auch das aktive Festwesen des MCV. Erst ab 1855 feierte Mainz erneut prunkvoll wie in alten Zeiten seine Fastnacht. [Anm. 30]
Literatur:
- Frieß-Reimann, Hildegard: Der Siegeszug des Prinzen Karneval. Die Ausbreitung einer bürgerlichen Festform unter besonderer Berücksichtigung von Rheinhessen, Mainz 1988 (Studien zur Volkskultur in Rheinland-Pfalz e. V.; Bd. 3).
- Frieß-Reimann, Hildegard: >>Johann Maria Kertell (1771-1839) – Gründer der Mainzer Ranzengarde und seine Zeit<< (Ausstellung). In: Fastnacht / Karneval im europäischen Vergleich. Mit 42 Abbildungen, 4 Diagrammen und 6 Tabellen, hg. v. Michael Matheus, Stuttgart 1999 (Mainzer Vorträge; 3), S. 85–87.
- Keim, Anton M.: 150 Jahre politisch-literarische Fasnacht. Von der Freiheit der Narren und wechselnden Zensoren. In: Bürgerfest und Zeitkritik. 150 Jahre Mainzer Fastnacht, 150 Jahre Mainzer Carneval-Verein 1838–1988, hg. v. MCV Mainz, Mainz 1987, S. 131–145.
- Kläger, Michael: Feste, Freizeit und Sport. In: Mainz – Menschen, Bauten, Ereignisse. Eine Stadtgeschichte, hg. v. Franz Dumont und Ferdinand Senf, Mainz 2010, S. 319–335.
- Kläger, Michael: Johann Maria Kertell (1771–1839). In: Mainz – Menschen, Bauten, Ereignisse. Eine Stadtgeschichte, hg. v. Franz Dumont und Ferdinand Senf, Mainz 2010, S. 140–141.
- Mühl, Bernd: Der Club oder 85 Jahre Mainzer Fastnachtsgeschichte. In: Fünfundachtzig Mainzer Jahre. Die Stadt. Die Fastnacht. Jakob Wucher in Geschichte und Geschichten, hg. v. Werner Hanfgarn und Bernd Mühl und Friedrich Schütz, Mainz 1983, S. 107–210.
- Schenk, Günter: Fassenacht in Mainz. Kulturgeschichte eines Volksfestes, Stuttgart 1986.
- Schwedt, Herbert: Der Prinz, der Rhein, der Karneval. Wege der bürgerlichen Fastnacht. In: Fastnacht / Karneval im europäischen Vergleich. Mit 42 Abbildungen, 4 Diagrammen und 6 Tabellen, hg. v. Michael Matheus, Stuttgart 1999 (Mainzer Vorträge; 3), S. 63–83.
- Schütz, Friedrich: 150 jahre MCV – 150 Jahre Stadtgeschichte. In: Bürgerfest und Zeitkritik. 150 Jahre Mainzer Fastnacht, 150 Jahre Mainzer Carneval-Verein 1838–1988, hg. v. MCV Mainz, Mainz 1987, S. 11–21.
- Schütz, Friedrich: Die moderne Mainzer Fastnacht. In: Mainz. Die Geschichte der Stadt, 2. Aufl., hg. v. Franz Dumont und Ferdinand Senf und Friedrich Schütz, Mainz 1999, S. 809–834.
- www.mainzer-fastnacht.de/geschichte.php (abgerufen am: 08.09.2016).
Verfasser: Sara Anil
Erstellt am: 14.09.2016
Anmerkungen:
- Vgl. Schwedt 1999, S. 64. Zurück
- Vgl. Frieß-Reimann 1988, Siegeszug, S. 39. Zurück
- Vgl. Frieß-Reimann 1988, Siegeszug, S. 5. Zurück
- Mühl 1983, S. 113. Zurück
- Mühl 1983, S. 113–114; Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 809–810. Zurück
- Zit. n. Mühl 1983, S. 114. Zurück
- Vgl. Schenk 1986, S. 42; http://www.mainzer-fastnacht.de/geschichte.php Zurück
- Vgl. Kläger 2010, Kertell, S. 141; Frieß-Reimann 1999, Kertell, S. 87. Zurück
- Vgl. Schütz 1987, 150 Jahre, S. 14. Zurück
- Vgl. Mühl 1983, S. 114–115; Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 810. Zurück
- Vgl. Kläger 2010, Feste, S. 329–330; Mühl 1983, S. 115–116. Zurück
- Vgl. Keim 1987, S. 131. Zurück
- Vgl. Mühl 1983, S. 116. Zurück
- Vgl. Mühl 1983, S. 114–116; Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, 810–811. Zurück
- Vgl. Schütz 1987, 150 Jahre, S. 15; Mühl 1983, S. 117. Zurück
- Vgl. Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 811. Zurück
- Vgl. Schenk 1986, S. 41–43. Zurück
- Vgl. Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 812. Zurück
- Vgl. Frieß-Reimann 1988, Siegeszug, S. 6–7 u. S. 40–41. Zurück
- Vgl. Schütz 1987, S. 11–12. Zurück
- Vgl. Keim 1987, S. 133; Schütz 1987, 150 Jahre, S. 12–13; Mühl 1983, S. 114–115. Zurück
- Vgl. Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 812; Mühl 1983, S. 116. Zurück
- Schütz 1987, 150 Jahre, S. 11–13 u. 19–20; Keim 1987, S. 133. Zurück
- Vgl. Frieß-Reimann 1988, Siegeszug, S. 41; Keim 1987, S. 136; Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 812. Zurück
- Zit. n. Keim 1987, S. 136. Zurück
- Vgl. Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 812. Zurück
- Vgl. Mühl 1983, S. 123–124; Keim 1987, S. 133–137. Zurück
- Vgl. Mühl 1983, S. 121–122; Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 812–813; Kläger 2010, Feste, S. 330. Zurück
- Vgl. Schwedt 1999, S. 71. Zurück
- Vgl. Schütz 1999, Mainzer Fastnacht, S. 814. Zurück